1. Startseite
  2. >
  3. Sachsen-Anhalt
  4. >
  5. Vietnamese an Fabrikmauer "hingerichtet"

Ungeklärte Kriminalfälle in Sachsen-Anhalt (Teil 11) Vietnamese an Fabrikmauer "hingerichtet"

Von Bernd Kaufholz 16.08.2011, 04:29

In Sachsen-Anhalt werden Jahr für Jahr rund 1500 sogenannte Kapitalverbrechen begangen – darunter rund 100 Tötungsdelikte. Die meisten Fälle werden aufgeklärt. Doch bleiben immer noch einige Straftaten übrig und die Täter unerkannt. Die Volksstimme nimmt sich in ihrer Sommerserie gemeinsam mit Staatsanwaltschaft und Polizei einiger dieser Delikte an und fragt: Wer kann Hinweise geben?

Leuna. Taxifahrer Klaus S. will am 27. Mai 1996 einen Fahrgast aus einer Gaststätte in Leuna (Saalekreis) abholen. Der neue Tag ist gerade zwölf Minuten alt, als er an der recht gut beleuchteten Werksmauer in der Spergauer Straße etwas Auffälliges liegen sieht. "War das nicht ein Mensch?", fragt er sich, als er mit seinem Mercedes bereits an der Stelle vorbeigefahren ist. S. wägt ab: Anhalten oder nicht? Einem möglicherweise Hilflosen helfen oder sich vielleicht Ärger einhandeln? Der Mann entscheidet sich für das Erste.

Er parkt sein Taxi am Straßenrand und geht auf der schmalen Betonstraße neben der Mauer bis zu der Stelle zurück, an der sie einen kleinen Knick macht.

Dort liegt ein Mann. Ein Asiat, wie S. unschwer erkennt. Unter dem Kopf des Regungslosen hat sich eine große Blutlache gebildet. Der Taxifahrer erkennt sofort: Hier kommt jede Hilfe zu spät. Der Mann ist tot.

Klaus S. informiert über Funk die Polizei. Wenig später ist ein Streifenwagen vor Ort, kurz darauf die Mordkommission.

Klaus Wiechmann, Staatsanwalt in Halle, erinnert sich an die Situation: "Die Papiere, die bei dem Toten gefunden wurden, lauteten auf den Namen Nguyen Can Khanh, geboren am 5. September 1965. Der Vietnamese hatte einen Asylantrag laufen."

Drei aufgesetzte Schüsse in den Kopf

Für die Ermittler ist noch am Fundort, der zugleich der Tatort ist, klar, dass es sich um Mord handelt. Der Mann wurde regelrecht hingerichtet. Die 9-Millimeter-Vollmantel-Projektile stecken noch im Körper des Opfers.

Die Tötungsart war für die Merseburger Mordkommission ein Fingerzeig auf ein mögliches Tatmotiv. Wiechmann: "Wir gehen von einem Verteilungskampf innerhalb der Zigaretten-Mafia aus. Mitte der 1990er Jahre wurden die unverzollten Zigaretten noch mehr oder weniger offen auf den Wochenmärkten an Ständen angeboten. Heute läuft der ungesetzliche Handel ja nur noch per Hauslieferung."

Gute Verkaufsplätze seien damals eine Goldgrube gewesen. Und im Zigarettenmilieu, das bereits damals von Vietnamesen dominiert wurde, seien solcherart Revierkämpfe beinahe an der Tagesordnung gewesen.

Die Ermittlungen erstrecken sich somit hauptsächlich auf diesen Bereich. Und dort kristallisieren sich schnell zwei Tatverdächtige heraus. Die Namen der zwei Phams – ebenfalls Vietnamesen – werden der Polizei von anderen Mitgliedern der Schmuggel-Szene "gesteckt".

Doch die Recherchen der Kripo ergeben, dass Pham 1 und Pham 2 nichts mit dem Mord zu tun haben können. So saß Pham 1 zur Tatzeit in Leipzig in Untersuchungshaft und hatte damit ein wasserdichtes Alibi. "Der Verdacht liegt nahe, dass sich andere Gruppierungen dieser beiden Konkurenten entledigen wollten", vermutet Wiechmann.

Allerdings ist sich die Polizei sicher, dass es zwischen Täter und Opfer eine Beziehung gegeben haben muss. Doch bringt die Ermittler diese Erkenntnis nicht voran. Möglicherweise steckt die sogenannte Hoa-Troc-Bande hinter der Tat.

Diese Gruppierung hat bei den Spezialermittlern gegen organisierte Kriminalität in den 1990er Jahren ganze Aktenbände gefüllt. Die Bande war berüchtigt dafür, dass sie ihre Operationsgebiete mit großer Brutalität beherrschte und andere Händler durch Attacken mit Samuraischwertern und Schusswaffen einschüchterte.

In Deutschland fielen vietnamesischen "Bandenkriegen" in den 1990er Jahren nach Angaben des Bundeskriminalamts rund 100 Menschen zum Opfer, 40 davon allein in Berlin. Viele Opfer wurden wie im Leunaer Fall "hingerichtet".

Morde im Mafiamilieu sind sehr schwer aufzuklären. So musste der Chef der berüchtigten "Quang-Binh-Bande" von Richtern in Berlin freigesprochen werden, weil die Beweise gegen ihn nicht ausreichten. Die Anklage hatte ihm vorgeworfen, für sieben Morde im Jahr 1995 verantwortlich zu sein.

Neben den kaltblütigen Morden gingen auch Schutzgelderpressungen, Geldwäsche, Raub und Erpressung auf das Konto vietnamesischer Banden. 1997 überfielen vier Vietnamesen ein China-Restaurant in Bremen und erbeuteten Geld. Die Opfer wurden gefesselt. 1993 wurden in Dresden 22 Vietnamesen festgenommen, denen Schutzgelderpressung in China-Restaurants vorgeworfen wurde.

Allein in Sachsen-Anhalt registrierten die Ermittler zwischen November 1991 und Februar 1993 insgesamt 16 Verbrechen, bei denen Vietnamesen Landsleute überfielen, ausraubten oder massakrierten.

Tatwaffe tauchte nicht wieder auf

So hackten Mitglieder einer vietnamesischen Bande im Januar 1993 in Halberstadt einem Zigarettenhändler mit einem Samuraischwert die Hände ab.

Bis heute ungeklärt ist auch der Mord an zwei Vietnamesen, die am 20. Oktober 1993 in einem Wald zwischen Bone und Bornum bei Zerbst gefunden wurden. Auch Nguyen Ba Cuong und Nguyen Hai Binh – beide Mitglieder der Zigaretten-Mafia – waren hingerichtet worden. Ihre fast skelettierten Leichen lagen neben einem geheimen Zigarettenlager. Auch in diesem Fall spielte eine 9-Millimeter-Pistole "Makarow" eine Rolle.

Cankhah Nguyen war 1993 nach Deutschland gekommen. Bis 1994 hatte er zeitweilig im Gästehaus Spergau gewohnt. Im Dezember 1995 führte seine Spur nach Köthen (Anhalt-Bitterfeld) und auch in Roßlau hatte er sich eine Zeit lang aufgehalten. Dass er seinen Lebensunterhalt mit Zigarettenhandel verdiente, steht außer Zweifel.

Doch viel mehr gesicherte Erkenntnisse zur Person des Opfers gibt es kaum. Und selbst die Tatwaffe tauchte bis heute nicht wieder auf.

Alle bisher veröffentlichten Fälle unter:

www.volksstimme.de/krimis

Am Sonnabend:

Alle ungeklärten Morde seit 1990

Magdeburg. Zwischen dem Mord an Beatrice R. Anfang Oktober 1990 bei Leuna und dem an Erik B. aus Stendal liegen 38 ungekärte Tötungsdelikte. Zum Abschluss der Serie gibt die Volksstimme einen Überblick über alle 40 ungeklärten Morde seit 1990.