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Vor 100 Jahren In Magdeburg gab es immer mehr Gewalttaten

Im September 1919 tötete ein Mann seine Schwägerin, Jugendliche schossen auf Passanten und das Magdeburger Theater stand in der Kritik.

Von Manfred Zander 29.09.2019, 01:01

Magdeburg l Der kleine Platz am Ende der Jakobstraße hatte wie die Straße selbst ihren Namen von der nördlichsten der Magdeburger Altstadtkirchen, der Jakobikirche. Aber anders als die Hektik der Geschäftsstraße atmete der Jakobikirchhof Ruhe. Erst recht an diesem Montagmorgen, dem ersten Septembertag. Nur der Inhaber des Barbierladens schlenderte über den Platz. Noch ein Blick auf die Turmuhr von St. Jakobi, dann öffnete er die Ladentür – und erstarrte. Wo sonst die Barbiersessel standen, der Spiegel Kundenblicke einfing, Rasiermesser, Scheren, Haarschneidemaschinen in Reihe lagen, gähnte nur noch Leere.

Das im Angesicht des Heiligen Jakob leergeraubte Friseurgeschäft sorgte für Gesprächsstoff in den Zeitungen, Kneipen und Straßenbahnen. Der Einbruch zeuge von einem Tiefstand der Moral, tadelte die Volksstimme: „Etwas Gewissenloseres als dieser Streich skrupelloser Langfinger läßt sich kaum denken.“

Das dürfte in den Amtsstuben der städtischen Polizei anders gesehen worden sein. Neben Diebstählen oder Einbrüchen wie am Jakobikirchhof hatten es die Ordnungshüter immer häufiger mit Gewalttaten zu tun.

Am 13. September hatte der Arbeiter Gustav Würdig seine Schwägerin getötet und versucht, seine geschiedene Frau zu erschießen. Acht Tage später wurde der Wächter Wilhelm Packebusch auf dem Gelände der von ihm bewachten Reinigungsfirma Karutz mit gespaltenem Schädel aufgefunden. Die Täter hatten danach vergeblich versucht, den Geldschrank der Firma zu öffnen. Sie begnügten sich dann mit zwei Lohntüten im Gesamtwert von 68,35 Mark. Die Fahndung nach den Tätern blieb erfolglos, so dass der Regierungspräsident 1000 Mark Belohnung aussetzte.

Am 26. September beschossen zwei Jugendliche auf dem Breiten Weg vorübergehende Passanten. Zum Glück gerieten sie an einen Radfahrer, der sie verfolgte, stellte und ohrfeigte. Tags zuvor hatte ein Kind in der Kaserne Ravensberg einen Stapel Handgranaten zur Explosion gebracht. Der Junge, berichtete die Volksstimme, sei „in Stücke gerissen“ worden.

Den Polizisten unterliefen auch Fehler. Am 3. September flüchtete ein Verdächtiger aus dem Polizeibüro Weinfaßstraße. Es begann eine filmreife Verbrecherjagd. Sie endet am Knochenhauerufer, wo der Geflüchtete sich über die Dächer der Nummern 7, 8 und 9 in Sicherheit bringen wollte. Von oben bewarf er die Beamten mit Steinen. Bald musste er sich ergeben. Viele Augenpaare hatten das Geschehen verfolgt. Und so waren die Magdeburger Blätter anderntags voll von der „Verbrecherjagd über die Dächer“.

Seit April war ein Sozialdemokrat der oberste Polizeibeamte der Provinzhauptstadt. Noch aber wartete Gustav Krüger darauf, dass seine provisorische Ernennung zu einer dauerhaften würde. Der Wartestand machte nervös. Da dürfte ihm der Schreck in die Glieder gefahren sein, als er beim Frühstück am 13. September sein Magdeburger Parteiblatt Volksstimme aufschlug.

Auf der zweiten Seite entdeckte er unter der Überschrift „Der ,silberne Falkenknopf‘“ seinen Namen. In Anerkennung ihrer Verdienste habe die Preußische Zentralstelle für Einwohnerwehren einigen Mitgliedern den silbernen Falkenknopf überreicht, las er. Und über dem Namen des Fabrikbesitzers Franz Seldte, der vor ein paar Monaten den „Stahlhelm, Bund der Frontsoldaten“ gegründet hatte, stand „Kommissarischer Polizeipräsident Krüger“.

Die Volksstimme erhob „entschiedensten Einspruch“ gegen die Fortführung kaiserlicher „Orden- und Titelwirtschaft“ durch die Republik. „Wir hoffen, daß Parteigenossen den ,silbernen Falkenknopf‘ so entrüstet zurückweisen werden, wie sie etwa einen ‚roten Adler‘ (der Rote Adlerorden war ein preußischer Verdienstorden, d. Verf.) oder anderen Piepmatz abgelehnt haben würden.“ Bereits zwei Tage darauf meldete Krüger öffentlich Vollzug: „Ich bin von dieser Auszeichnung ebenso erstaunt wie überrascht, und es bedarf keiner Frage, daß ich sie ablehnen werde, weil Dienste, die aus innerer Pflichterfüllung für das Staatswohl geleistet werden, solcher Art Anerkennung nicht bedürfen.“

Krüger hatte sich überflüssige Sorgen gemacht. Noch im September wurde er zum regulären Polizeipräsidenten ernannt.

Die Aufregung über eine Ehrung ist beispielhaft für die aufgeheizte Atmosphäre zwischen gestern und heute. Als am 2. September zum Sedantag (Nationalfesttag zur Erinnerung an die für die deutschen Verbündeten siegreiche Schlacht von Sedan 1870, d. Verf.) Kinder Lampions durch Magdeburger Straßen trugen, wetterte die Volksstimme: „Wir ... glauben, daß es nun endlich Zeit wird, daß die Beteiligten am Sedanrummel einsehen, wie lächerlich ... eine derartige Erinnerungsfeier wirkt.“ In einem anderen Beitrag stöberte das Blatt monarchistische Überreste im Magdeburger Rathaus auf. Die großen Hohenzollernbilder seien verschwunden. „Nur der Leiter des hiesigen Presseamtes, der Vorsitzender der Demokratischen Partei ist, kann sich von seinem Wilhelm dem Letzten noch nicht trennen.“

Der schwierige Umgang mit der Vergangenheit verunsicherte. In manchen Schulen fielen auch Bildnisse und Büsten Friedrich des Großen, des Freiherrn von Stein, Bismarcks, Moltkes oder Hindenburgs der neuen Zeit zum Opfer. Das Provinzialschulkollegium bat beim Kultusministerium um Entscheidunghilfe. „Zu entfernen sind nur Bildnisse des letzten deutschen Kaisers und Kronprinzen“, lautete die Antwort aus Berlin.

Auch der Magdeburger Oberpräsident Rudolf von der Schulenburg zog Zorn auf sich. In einer Zuschrift an die Kreuzzeitung hatte er darauf hingewiesen, dass von preußischen Staatsbeamten kein Eid auf die neue Verfassung gefordert werden könne. Ein einmal auf den König geleisteter Eid habe Bestand, solange ein Mitglied des königlichen Hauses lebe. Die Volksstimme wusste es besser. Sie zitierte aus Wilhelm II. Abdankungsurkunde: „Zugleich entbinde ich alle Beamte des deutschen Reichs und Preußens ... des Treueids, den sie mir als ihren Kaiser, König und obersten Befehlshaber geleistet haben.“

Kritik gab es auch für die Direktion des Magdeburger Stadttheaters. Sie hatte die Wiederholung der Komödie „Die Kassette“ von Carl Sternheim abgesetzt und an dessen Stelle das Lustspiel „Meine Frau, die Hofschauspielerin“ von Alfred Moeller und Lothar Sachs angesetzt. Die Direktion sei „vor der abfälligen Kritik des Publikums und der bürgerlichen Presse ... mutig zurückgewichen“ bemängelte die Volksstimme. Das Sternheim-Stück rege „ein wenig zum Nachdenken an“, während die „Hofschauspielerin“ „auch dem plattesten Hirn glatt eingeht“. Zum Schluss verlangte die Zeitung: „Wir ... erwarten, daß der Theaterausschuß in Aktion tritt.“

Man ahnte, wie schwer die neue Zeit es haben würde, und auch, wie schwer sie es sich machen könnte.