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Vor 100 Jahren Todesschüsse an der Jakobikirche

Der Alltag in Anhalt und der preußischen Provinz Sachsen waren im April 1918 durch Knappheit und den Ersten Weltkrieg gezeichnet.

Von Manfred Zander 29.04.2018, 12:04

Magdeburg/Egeln l Zwar galt der April seit Urväters Zeiten auch als Monat des Schabernacks. Fast vier Kriegsjahre hatten jedoch die Lust am Spaß genommen. Aber nicht jedem, wie Dr. Kurt Pinthus bei der Lektüre der Volksstimme erfuhr. Ein wenig versteckt, aber fettgedruckt, entdeckte er auf der dritten Seite ein Inserat mit seinem Namen und seiner Adresse, das nicht von ihm aufgegeben worden war. „Dr. Kurt Pinthus“, las er, „vergibt einen Logenplatz im Viktoria-Theater an gebildete junge Dame. Briefe mit Bild an Dr. Kurt Pinthus, Königstraße“.

Der zum Militärdienst in die Magdeburger Garnison verpflichtete Literaturwissenschaftler war erbost. Wegen seiner wenig konservativen Gesinnung und seiner jüdischen Herkunft war wiederholt versucht worden, ihn in Verruf zu bringen. Nun wieder. Der 32-Jährige wandte sich an die Volksstimme. Anderntags war im Blatt eine Entschuldigung für das „Versehen in unserer Inseratenannahme“ zu lesen. Das Inserat sei „von einem dritten in offenbar schmutziger Absicht aufgegeben“ worden. Die Angelegenheit sei nun Sache der Staatsanwaltschaft.

Was das Egelnsche Tageblatt am 27. April berichtete, mag sich hundert Jahre später wie ein Aprilscherz lesen, war aber Wirklichkeit eines Hungerjahres. Der Magistrat der Stadt Egeln, schreibt das Blatt, habe die hiesige Feldmark in neun Hamsterbezirke eingeteilt. Diese seien meistbietend versteigert worden, und zwar für jeweils 1190 Mark.

Das Fleisch von Hamstern war inzwischen zur menschlichen Nahrung geworden. Die Egelner Stadtväter würden deshalb die Hamsterjäger wohl zu den Kriegsgewinnern zählen, meinte die Volksstimme dazu. Ironisch lobte das Blatt den Magistrat, „der für seinen Spürsinn nach neuen Einnahmen alle Anerkennung verdient“ und empfahl den Fang von Sperlingen als weitere Einnahmequelle. Auf etwas andere Weise wurde die Ernährungslage in Gommern gestärkt. Dort kratzte ein Schäferhund beim Spaziergang in einem Sandloch. Zuerst legte er zwei leere Spiritusflaschen frei, dann an anderer Stelle einen Eimer mit eingesalzenem Hammelfleisch. Nun waren seine zweibeinigen Begleiter hellwach geworden. Sie holten Spaten und fanden noch 20 Zentner Kartoffeln, drei Säcke mit Getreide, Lederstücke und ein Schaffell.

In der Volksstimme äußert sich am 5. April eine Hausfrau. „Ein gescheiter Mann sagte einmal zu mir, ... vor eine richtige Aufgabe gestellt, könnte ich sie nicht erfüllen. Nun stehe ich wieder vor so einer Aufgabe ... So oft ich waschen soll ohne Seife, heizen ohne Kohlen, kochen ohne Material, flicken ohne Faden und noch mehr, ... da wünsche ich mir immer, dieser gescheite Mann wäre an meiner Stelle.

Längst galt die abgewandelte Redensart: Es gibt nichts, was es nicht gibt. Alte Kleidung etwa musste immer wieder ausgebessert werden. Das erforderliche Nähmaterial allerdings gab es kaum noch zu kaufen.

In Magdeburg waren für Nähgarn und Zwirn Kundenlisten eingeführt worden. Andernorts erhielten nur Familien mit vier oder mehr Mitgliedern Nähgarn. Wieder andere Städte verteilten auf fünf Einwohner eine Rolle Garn. Wer in ihren Besitz kommen wollte, musste sich eine entsprechende Anzahl Teilhaber suchen.

In Anhalt und in der Provinz Sachsen wurden gut betuchte - in diesem Fall ein wörtlich zu nehmender Begriff - Frauen und Männer dazu aufgerufen, einen Anzug oder ein Kleid zugunsten ärmerer Menschen zu spenden. Der Erfolg des Gewissenappells muss – trotz einer in Aussicht gestellten Befreiung von einer verpflichtenden Bestandsmeldung – spärlich gewesen sein. Die Volksstimme schlug deshalb am 13. April vor, Schnüffler durch die Ankleidezimmer zu schicken: „Wenn man den Mut aufbrächte, und einmal in die Kleiderschränke sähe, es würde sich wohl manches ermöglichen lassen in der Kleiderversorgung.“

Aber was sind fehlende Hemden oder Hosen schon gegen den Verlust eines Angehörigen. Einen Schreckenstag erlebte am 2. April die in der Magdeburger Bahnhofstraße wohnende Mutter von Otto Burgfeld. Der Fünfjährige war beim Spielen in der nahen Kaiserstraße unter eine fahrende Straßenbahn geraten. Er verlor beide Unterschenkel. Am Abend verstarb der Junge im Krankenhaus. Und als wäre das nicht genug des Leides, erhielt Frau Burgfeld gleichzeitig auch noch die Mitteilung, dass Ottos 18-jähriger Bruder in Frankreich gefallen sei.

Am 26. April stellte der Sozialdemokrat Otto Landsberg eine kleine Anfrage an die Reichsregierung: „Am 17. des Monats hat in Magdeburg ein Sergeant durch Schüsse, die er auf einen ihm entwichenen Militärangehörigen abgab, zwei spielende Kinder verletzt, von denen das eine an den Wunden verstorben ist.“ Der Magdeburger Reichstagsabgeordnete forderte seit März versprochene Maßnahmen gegen den Schusswaffengebrauch innerhalb von Ortschaften. Generalmajor von Wrisberg blieb im Namen des Kriegsministeriums allerdings unverbindlich. Man habe gegenüber den Dienststellen „nochmals auf die Dringlichkeit der Sache hingewiesen“.

Die Volksstimme schilderte, was am Abend des 17. April am Jakobikirchplatz geschehen war. Ein Sergeant und ein Kanonier der hiesigen Garnison hatten einen Deserteur ins alte Kriminalgefängnis auf dem Tränsberg zu bringen. Am Jakobikirchplatz entwischte der Gefangene. „Als der Fliehende auf den dreimaligen Zuruf ,Halt!‘ nicht stand, legte der Sergeant das Gewehr an und gab auf ihn zwei scharfe Schüsse ab. Die Geschosse trafen zwei spielende Kinder.“ Die Verletzten waren zehn und sieben Jahre alt: Ernst Rühlemann aus der Großen Storchstraße 11 und Hans Wölfling aus der Jakobstraße 46. Beide wurden ins Altstädtische Krankenhaus gebracht. Am 21. April meldet die Volksstimme den Tod des Zehnjährigen. „Der Vater und Bruder des kleinen Rühhlemann stehen im Felde.“

Einige Ausgaben zuvor hatte die Volksstimme aus dem Jahresbericht der Bismarckschule von 1912 Schüleraufsätze zitiert. „Der Krieg ist eine Wohltat für die Völker“, hatte einer der Schüler geschrieben. Sie sollte noch einige Monate andauern.