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Wohnen Süßes Leben in der Zuckerfabrik

Wenn Sachsen-Anhalter in alten Mühlen, Zuckerfabriken, Gefängnissen oder über Magdeburger Kinos wohnen, sind das ungewöhliche Wohnorte.

Von Bernd Kaufholz 01.07.2018, 01:01

Dedeleben/Magdeburg l Das 153 Jahre alte Gebäude in Dedeleben (Harzkreis) war schon fast alles: 1865 erbaut als Zuckerfabrik, in der das „weiße Börde-Gold“ produziert wurde, 1969 umfunktioniert zur Schwerspat-Produktion (Zusatz für Bohrspülungen). Ab 1974 Außenstelle des VEB Kleiderwerks Oschersleben. Nach der Wende zog eine Weiterbildungsgesellschaft ein. Danach hatte die Treuhand die Hand drauf und bot das Grundstück zum Verkauf an. 1997 unterschrieben Albert Krohn und seine Ehefrau Ellen Schahn den Vertrag und wurden Besitzer des 7000 Quadratmeter großen Grundstücks.

Und Ellen Schahn kann es manchmal selbst nicht glauben, was sich in den vergangenen 21 Jahren alles getan hat. Sie zeigt alte Fotos: „So hat es hier ausgesehen, als wir das Gebäude übernommen haben. Heruntergekommen ist noch geschmeichelt.“

Sie seien aus Idar-Oberstein (Rheinland-Pfalz) gekommen, weil sie nicht mehr nur Händler sein, sondern selbst produzieren wollten. Und zwar ökologische Fingerfarben, Softknete, Wachsmalstifte, Wassermalkästen und Eierfarben.

„Jemand hat uns gesagt: in den neuen Ländern stehen doch viele Gebäude leer, und da haben wir uns einfach umgesehen“, erzählt die 69-Jährige in der großen Küche ihres 200 Quadratmeter großen Wohnbereichs in der 2. Etage.

17 Jahre habe es gebraucht, bis das sich der Bau in seinem jetzigen Zustand befindet, sagt die Unternehmerin und führt stolz durch die hellen und geschmackvoll eingerichteten Privat- und Gästezimmer.

Allein 70 Fenster mussten erneuert und Wasser herangeführt werden. „Das im Hausbrunnens konnten wir nicht nutzen: Kolibakterien!“ Strom sei „ebenfalls so eine Frage“ gewesen. Die Unternehmerin, deren Produkte in den USA, in Indien, Australien – aber auch in Sachsen – heißbegehrt sind, geht auf den aufgearbeiteten Holzdielen einen langen Gang entlang. An den Wänden hängen kleine Rahmen, mit eigenen Stickereien – ihrem Hobby. „Handarbeit ist seit Ender der 1980er Ausgleich für mich“, sagt sie und nimmt an Kursen in Salzgitter teil, um ihre Handfertigkeit zu schulen. „Es sind Motive der dänischen Handarbeitsgilde“, erklärt sie und verneint die Frage, ob sie die „Kreuzstiche“ verkaufe, kategorisch. „Mein Herz hängt an jedem Stück.“

In einem Lagerraum, der noch nicht hergerichtet ist, kann man genau ermessen, wie das Innenleben der „alten Dame“ vor ihrer Wiederbelebung ausgesehen hat: ein halbüberklebter, teils zerstörter Holzfußboden, muffige Wände. 200 Quadratmeter von einst 2100 liegen noch vor dem Unternehmerpaar.

Hat sie ihren Umzug bereut: Pause – dann ein „Jein“. Es habe eine Weile gedauert, bis die Dedeleber akzeptiert hätten, dass sie „keinem etwas wegnehmen“ wollen. „Die Menschen hier sind anders sozialisiert. des Das mussten wir erst verstehen und auch lernen, zwischen den Zeilen zu lesen.“

Dann räumt Ellen Schahn jedoch ein: „Dass man als Ortsfremder nicht gleich mit offenen Armen empfangen wird, das ist eigentlich kein Ost-West-Problem. Das gibt es wohl überall.“

Wolfgang Heckmann steht in seiner großzügigen Küche. Mit dem rechten Bein über dem Kinosaal, mit dem linken über dem Vorführraum. Er wohnt über dem Kino. Genauer gesagt: Über dem 82 Jahre alten „Oli“ in Magdeburg mit der prägnanten Bauhausfassade, die zwar schon 1936 von Carl Krayl geplant war, aber erst vom Neu-Bewohner Heckmann verwirklicht wurde.

Wie er zu seinem Reich, in dem bis 2003 die letzte „Kartenabreißerin“ des Lichtspieltheaters gewohnt hat, kam, weiß der Ex-Philosophie-Professor und heutige Kino-Besitzer noch ganz genau. „Ich war damals solo und saß abends in Stadtfelder Kneipen.­ Gegen 23 Uhr werden die Leute ja immer sentimental. Ich habe dann wieder und wieder gehört: Schade um das schöne Oli. Da soll ein Supermarkt rein. Wieder ein Stück altes Magdeburg weg ...“

Irgendwann habe er sich das zu Herzen genommen und sich entschlossen, das „Oli“ zu kaufen, seine alte Schönheit zu erhalten – „vielleicht noch ein bisschen schöner“ – und weiterzuführen.

Dasselbe galt für die Wohnung, die der heute 72-Jährige umbaute. Unten (manchmal) Mord und Totschlag auf der Leinwand, oben das pralle Leben. Ein Schmuckkästchen mit Büchern über Büchern, einem Wohnzimmer mit Kamin und einem großen TV-Gerät.

Wolfgang Heckmann ruht auf seinem Schaukelstuhl in sich. „Häuser darf man nicht vergewaltigen“, sagt der Mann, der als Psychologe Sanierungsprozesse begleitet hat. „Sanfte Sanierung“, nennt der 72-Jährige das und „nicht alte Fenster raus, Plaste rein, alte Kacheln abschlagen, neue dran.“

Dasselbe bei den Holzfenstern, die er nur aufgearbeitet haben wollte. Es habe mit den Handwerkern große Diskussionen gegeben, weil ihnen so etwas noch nicht untergekommen war.

Das Schmuckstück der Kino-Wohnung ist jedoch die Terrasse mit Blick auf das „Oli“-Dach und die riesigen Laubbäume daneben. Überall Ruheecken mit Bänken und anderen Sitzgelegenheiten. Blühendes, Grünes – ein Garten über der Stadt.

„Ich bereue nichts“, sagt Heckmann, „auch, wenn ich bei der Umgestaltung vom Kino und der Wohnung manchmal unter Verarmungswahn gelitten habe.“