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79-Jährige stürzte beim Einsteigen in die Linie 2 Zu alt, zu krank für die Straßenbahn?

01.06.2011, 04:35

Von Bernd Kaufholz

Magdeburg. Helga Schulze wollte sich am 29. März dieses Jahres in Magdeburgs Innenstadt einen Operationstermin bei ihrer Augenärztin holen. Im Anschluss daran wartete die Frau, die seit 20 Jahren an Multipler Sklerose leidet, an der Straßenbahnhaltestelle Theaterplatz auf die Linie 2, um nach Hause zu fahren.

Was dann gegen 13 Uhr geschah, veränderte das Leben der fast 80-Jährigen. Und selbst zwei Monate nach dem Geschehen steht der Rentnerin noch die Angst ins Gesicht geschrieben, wenn sie über den Unfall spricht: "Die Straßenbahn hielt an. Die Automatiktür des mittleren Wagens ging auf. Ich hob wie immer meinen Rollator auf die Eingansstufen und wollte gerade hinterher- steigen, da ging die Tür zu."

Ihre Gehhilfe auf Rädern wurde kurzzeitig eingeklemmt. Doch durch den Einklemmschutz öffnete sich die Tür wieder automatisch. Der nun wieder freie Rollator kippte gegen Helga Schulze, die schockstarr vor der Bahntür stand und riss sie nach hinten. Die Rentnerin fiel rückwärts und schlug hart seitlich mit dem Gesäß auf der Straße auf.

"Ich wusste gar nicht, wie mir geschah", berichtet sie. "Ich bekam sehr große Schmerzen im Hüftbreich." Dann seien der Straßenbahnfahrer und noch ein zweiter MVB-Mitarbeiter gekommen und hätten ihr aufgeholfen. "Was sollen wir denn nun mit Ihnen machen?", habe der Fahrer sie gefragt.

Uniklinik stellte Beckenbruch fest

"Ich habe gar nicht gewusst, was ich antworten soll und habe wohl gesagt: Das weiß ich auch nicht", so die Rentnerin.

Der MVB-Mitarbeiter habe sich die Adresse des Unfallopfers, das sichtlich unter Schock stand, geben lassen und habe versprochen, dass sich die Verkehrsbetriebe melden würden. "Dann half er mir mit dem Rollator in die Bahn", so die Rentnerin weiter.

An der Haltestelle Planckstraße stieg sie aus und konnte kaum noch laufen. Sie biss die Zähne zusammen und schleppte sich regelrecht bis in ihre Wohnung in der Jean-Burger-Straße.

"Ich habe mich erst einmal hingelegt und gedacht, dass die Schmerzen wohl irgendwann mal nachlassen würden."

Doch da hatte sie sich geirrt. Das Gegenteil trat ein. Die Schmerzen wurden so schlimm, dass sie etwas später die 112 anrief. Der Rettungswagen brachte Helga Schulze zur Unfallchirurgie der Magdeburger Universitätsklinik. Dort wurde sie geröntgt und ein Beckenringbruch diagnostiziert. Die Verletzte musste bis zum 6. April im Krankenhaus bleiben.

Der Magdeburger Rechtsanwalt Torsten Hallmann vertritt die Interessen der 79-Jährigen. Er wandte sich an die MVB, um die Unfallschäden seiner Mandantin zu regeln. "Wir sind der Ansicht, dass der Betrieb die Verkehrssicherungspflichten nicht ausreichend beachtet hat", sagt er.

Formaljuristischer Standpunkt der MVB

Außerdem habe er um die Herausgabe des Unfallprotokolls gebeten und um den Namen des MVB-Mitarbeiters, der das Unfallprotokoll aufgesetzt hat. "Diese Bitten wurden allerdings nicht erfüllt", so der Fachanwalt für Medizinrecht.

Was hingegen kam, war ein Schreiben, in dem die MVB am 10. Mai alle Ansprüche zurückwiesen und lapidar mitteilten, dass sich eine Automatiktür nach einer bestimmten Zeit nun einmal schließe und damit auch zu rechnen sei. Ältere Fahrgäste müssten im Übrigen im unmittelbaren Sichtfeld des Fahrers einsteigen.

Wörtlich: "Ein älterer Fahrgast, der dazu selbst nicht in der Lage ist, muss sich der Hilfe Dritter bedienen." Und weiter: "Wenn ein Fahrgast altersbedingt, so wie ihre Mandantin, zeitgemäß angepasste Beförderungsmittel nur im Rahmen seiner Reaktionsmöglichkeiten nutzen kann und sicher sein will, dass er diese gleichwohl gefahrlos und sachgerecht benutzt, ist er gehalten, sich über Möglichkeiten des gefahrlosen Besteigens zu informieren."

Der Fahrer sei verpflichtet gewesen, sofort einen Arzt zu rufen – auch zur eigenen Sicherheit, meint hingegen Anwalt Hallmann. "Er hätte die Pflicht gehabt zu helfen."

Wenn es nicht anders geht, will der Rechtsbeistand der Rentnerin den Fall gerichtlich entscheiden lassen. "Natürlich wäre es da hilfreich, wenn sich noch jemand an den Sturz meiner Mandantin an der Straßenbahn erinnern könnte und sich melden würde." (Telefon: 0391/624345, Adresse: 39112 Magdeburg, Klewitzstraße 6, E-Mail: RAeHallmann.Kurtz@t-online.de).

Helga Schulze hat heute immer noch große Schmerzen. "Ich lebe von Schmerztabletten. Aber ich muss zufrieden sein", sagt sie tapfer.

Der Bruch ist noch nicht verheilt. Das könne ein Jahr dauern, habe ihr der Arzt gesagt. Dreimal die Woche kommt die Physiotherpie zu ihr in die Wohnung, damit sie in Bewegung bleibt.

Helga Schulze kann nicht verstehen, dass sich die MVB "so unkooperativ" verhalten. Auf eine gerichtliche Auseinandersetzung sei sie nicht erpicht, meint sie. Aber einem Vergleich würde sie sich nicht verschließen.

"Man kann doch über alles reden. Aber, dass ich zu den Schmerzen, die ich leide, in dem MVB-Schreiben auch noch so unfreundlich behandelt und als alter Mensch beinahe entmündigt werde, das verstehe ich nicht", sagt die Witwe traurig. Dann nimmt sie ihren Rollator und trippelt vorsichtig bis zu ihrer Wohnungstür.