Fußball Zwischen Skepsis und Sehnsucht: Ancelottis Brasilien-Mission
Mit Ancelotti beginnt für die Seleção nach Jahren voller Rückschläge ein neues Kapitel. Der Italiener soll nicht nur den sechsten Stern holen, sondern auch das Vertrauen einer Nation zurückgewinnen.

Rio de Janeiro - Trommeln, Gesänge und Plakate: Als Carlo Ancelotti vor einem Hotel in Rios Nobelviertel Barra da Tijuca ankommt, bereiten ihm Dutzende Fans in gelb-grünen Trikots einen Empfang, wie ihn sonst nur Popstars oder Weltmeister erleben. Der neue brasilianische Nationaltrainer stellt sich mit gelber Basecap kurz vor, lächelt und winkt.
Wenige Stunden später steht der 65-Jährige im Anzug vor der Presse: „Es ist eine Ehre und ein großer Stolz, die Nationalmannschaft zu betreuen, die die beste der Welt ist“, sagt er. Ziel sei der lang ersehnte sechste WM-Titel - „eine enorme Verantwortung, die ich gerne übernehme“.
Die Seleção in der Krise
Ancelottis Ankunft sorgt für Aufbruchstimmung – doch die Realität ist ernüchternd: Brasiliens Nationalmannschaft steckt seit Jahren in der Krise. Seit dem WM-Titel 2002 wartet das fußballverrückte Land auf den sechsten Stern.
Nach dem enttäuschenden Viertelfinal-Aus bei der WM 2022 gegen Kroatien ist die Seleção sportlich wie strukturell ins Wanken geraten. Auf Tite hat Brasilien drei Trainer verschlissen - zuletzt wurde Dorival Júnior nach einer 1:4-Schmach in der WM-Quali gegen den Erzrivalen Argentinien entlassen. Mit 21 Punkten belegt Brasilien aktuell Platz vier. Der Vorsprung auf den Relegationsrang beträgt sechs Punkte - bei noch vier ausstehenden Spielen.
Ein Hoffnungsträger mit Titelerfahrung
Ancelotti kommt nun als einer der erfolgreichsten Fußballtrainer überhaupt: fünf Champions-League-Titel, Meisterschaften in allen fünf europäischen Topligen – darunter 2017 mit dem FC Bayern. Keinem vor ihm war das bis dahin gelungen. Doch trotz seiner langen und beispiellosen Karriere betritt der Italiener nun Neuland: Es ist sein erstes Engagement als Nationaltrainer.
Auch für die Seleção ist Ancelotti eine historisch einmalige Personalie: Steht er wie geplant gegen Ecuador und Paraguay (5. und 10. Juni) an der Seitenlinie, wäre er der erste ausländische Trainer in einem WM-Qualifikationsspiel der Seleção. Zwar hatte es zuvor bereits nicht-brasilianische Coaches gegeben - allerdings meist nur interimsmäßig und für kurze Zeit.
„Ich hatte immer eine große Verbindung zu diesem Land“, sagt der Italiener, der zuletzt bei Real Madrid mit den Brasilianern Vinicius Júnior, Rodrygo und Éder Militão zusammenarbeitete. Er habe auch davor brasilianische Stars trainiert wie die Weltmeister von 2002: Ronaldo, Rivaldo, Ronaldinho und Kaká. Letzterer wurde unter Ancelotti 2007 bei AC Mailand zum Weltfußballer gekürt und glaubt: „Er kann der Motor sein, der uns vorantreibt.“
Neustart auch auf höchster Ebene
Mit Ancelotti verbunden ist auch ein Neuanfang auf Verbandsebene. Nach der Absetzung von CBF-Präsident Ednaldo Rodrigues trat Ende Mai der 41-jährige Samir Xaud das Amt an. Er kündigte an, einen „modernen und partizipativen“ Verband aufzubauen. Nach Jahren politischer Grabenkämpfe soll die Seleção wieder eine klare Richtung erhalten.
Zwischen Zweifel und Zuversicht
Für die ersten WM-Quali-Spiele unter seiner Regie nominierte Ancelotti junge Talente wie Estêvão, verzichtete aber vorerst – aus gesundheitlichen Gründen – auf Neymar und Rodrygo. Auch Routiniers wie Casemiro kehrten zurück. Die Mischung aus Erfahrung und Zukunft soll neue Energie bringen. Die „ganze Qualität, die wir haben“, müsse schnell auf den Platz gebracht werden, fordert Ancelotti. „Mit Einstellung, Engagement und Aufopferung von allen.“
Viele Fans, ehemalige Spieler und auch die Presse begrüßten die Ernennung des Italieners zum neuen Trainer. Die Erwartungen an ihn sind hoch. Doch in einem Land zwischen Fußballleidenschaft und Enttäuschung bleibt auch Skepsis. Staatspräsident Luiz Inácio Lula da Silva hatte bereits vor zwei Jahren, als Ancelotti erstmals im Gespräch war, gefragt: „Warum löst er nicht das Problem Italiens, das nicht einmal an der letzten Weltmeisterschaft teilgenommen hat?“
Und so bleibt am Ende nur eine Frage - ein Ausdruck, mit dem Brasilianer Hoffnung und Zweifel zugleich formulieren: „Agora vai?“ - Diesmal vielleicht?