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Leistungssport DDR-Doping ist dunkles Kapitel ohne Ende

Im 30. Jahr des Mauerfalls ist ein dunkles Kapitel der DDR-Geschichte noch nicht geschlossen: das Staatsdoping.

Von Janette Beck 06.06.2019, 01:01

Magdeburg l Die Akte „DDR-Doping“ ist noch nicht geschlossen. Wer anderes behauptet, oder es „nicht mehr hören kann“, wird an diesem Nachmittag eines Besseren belehrt: Birgit Neumann-Becker, Landesbeauftragte zur Aufarbeitung der DDR-Diktatur, hat zu einer Fachtagung in den Landtag eingeladen. Thema: „Zwischen Leistung und Leidenschaft – Betroffene des DDR-Dopings“. Der Sitzungsraum ist voll. Experten, Sport-Funktionäre, Wissenschaftler, Mediziner, aber auch viele Betroffene stellen sich den facettenreichen Problemen.

Birgit Neumann-Becker hat zum Thema DDR-Doping eine klare Meinung: „Es mag hart klingen, aber Minderjährigen im staatlichen Auftrag leistungssteigernde Mittel zu verabreichen, das ist aus meiner Sicht hemmungsloser Kindesmissbrauch und schwere Körperverletzung.“ Das Perfide am System sei gewesen, dass Kinder und Jugendliche dem Machtapparat „schutzlos ausgeliefert“ waren. Wie das System genau funktioniert habe, wisse man inzwischen. „In der DDR wurden auf staatlich kontrollierbaren Feldern wie dem Sport Erfolge produziert. Darüber gibt es gesicherte Erkenntnisse“, so die Opfer-Bauftragte. Das erschütternde Ausmaß des Dopings wurde nicht zuletzt durch die Prozesse im Berliner Landgericht im Jahr 2000 gegen die „zentralen Figuren des Staatsdopings“ deutlich: Der langjährige DDR-Sportchef Manfred Ewald und Sportarzt Manfred Höppner haben sich, so lautete das damalige Urteil, „durch die heimliche Verabreichung von männlichen Hormonen an minderjährige Sportler der Beihilfe zur vorsätzlichen Körperverletzung schuldig gemacht“. Beide wurden zu Bewährungsstrafen verurteilt.

Umso unerträglicher ist für die gebürtige Görlitzerin, sich „aktuellen Geschichtserzählungen gegenüber zu sehen, die all das Wissen verschweigen“. Ein Beispiel sei die im Vorjahr erschienene Broschüre „60 Jahre SV Halle“: „Da ist nur an einer einzigen Stelle das Wort Doping zu lesen – im Zusammenhang mit dem Kanadier Ben Johnson – die eigene Doping-Geschichte wird dagegen verschwiegen. Solche geschichtsverfälschenden Erzählungen über den DDR-Sport sind nicht hinnehmbar.“

Weil sich zum Teil erst heute schwere gesundheitliche Spätfolgen des Zwangsdopings zeigen, die Serie der Hilfesuchenden nicht abreißt und es immer öfter Opfer der zweiten Generation gibt, plädiert die Theologin für eine Entfristung im Dopingopferhilfegesetz (siehe Infokasten).

Dr. Berno Bahro ist Sportwissenschaftler und Historiker an der Universität Potsdam. Er betont: „Im Umgang mit dem DDR-Dopingsystem ist die historische Perspektive wesentlich wichtig.“ Die Leistungsfähigkeit des Sportsystems sei zunächst darin begründet gewesen, so Bahro, dass sich die DDR als Staat der Herausforderung gestellt hat, sportliche Leistungen zu erbringen. Der Prozess wurde systematisch gestaltet, durch Fachpersonal und Sportstätten untersetzt, sowie sportwissenschaftlich und medizinisch begleitet. Rückblickend müsse man sich fragen, so der Sporthistoriker: Warum hat die DDR in sportliche Leistungen investiert und weswegen wurde der legale Weg verlassen?

Seine Antwort: „Schon zu nationalsozialistischen Zeiten hat man das Potenzial des Sportes erkannt. Auch die DDR wollte dadurch eine staatliche Anerkennung erreichen, eine eigene Identität schaffen und nicht zuletzt in Zeiten des ,Kalten Krieges‘ durch sportliche Erfolge die Überlegenheit des politischen Systems demonstrieren.“ Es wurde geforscht und getestet – auch unter dem Deckmantel, das um sich greifende Doping bekämpfen zu wollen.

1965 entwickelte Jenapharm Anabolika in Tablettenform. Dynamo Berlin war beim experimentellen Einsatz im Sport Vorreiter. Das Ganze gipfelte 1974 im geheimen „Staatsplan 14.25“. Doping wurde unter dem Deckmantel „unterstützende Mittel“ zentral gesteuert, der Mythos der Leistungsfähigkeit des Sportfördersystems aufrecht erhalten. Baroh: „Es gab keine Möglichkeit, sich der Einnahme zu entziehen.“ Das Verwerflichste daran sei gewesen, dass Ärzte, Funktionäre und Trainer „leistungssteigernde Mittel ohne medizinische Indikation und in Kenntnis der Risiken und Nebenwirkungen Kindern und Jugendlichen verabreicht haben – ohne Rücksicht und deren Wissen“. Mit den Folgeschäden hätten viele bis heute zu tun. Zu den Zahlen sagt Bahro: „Experten gehen von rund 15 000 Kaderathleten in der DDR aus – bis zu zehn Prozent davon sind durch das Doping geschädigt.“

Ute Krieger-Krause (geborene Winter), Jahrgang 1962 und ehemalige Schwimmerin vom SC Magdeburg, ist eine der Geschädigten. Sie und auch ihr Ehemann Heiko Krieger, vor seiner Geschlechtsumwandlung als Heidi Krieger in den 1980er Jahren im Kugelstoßen sehr erfolgreich, gehören zu den rund 1000 staatlich anerkannten Doping-Opfern.

Als Ute 1973, mit 11 Jahren, zur Kinder- und Jugendsportschule Magdeburg kam, war ihre kleine Welt noch in Ordnung. Das Training war hart, aber sie hatte Spaß am „Kachelnzählen“. Das Schlucken von Pillen unter den Augen des Trainers gehörte zum Alltag. „Es wurde uns förmlich antrainiert. Es hieß, das sind Vitamine.“ Sie war ein Talent. Ehrgeizig und trainingsfleißig. Wie alle träumte sie von Olympia. Schnell stellten sich Erfolge ein. Bereits mit 15 wurde die Rückenschwimmerin in den Olympiakader aufgenommen. „Im Trainingslager wechselte plötzlich die Zusammensetzung der Tabletten.

Die hellblauen stachen hervor – heute weiß ich, das war Oral-Turinabol.“ Mit der Einnahme veränderte sich alles. Sie nahm 10 bis 15 Kilo zu. „Mein ganzer Körper fühlte sich furchtbar an. Fremd. Hart“, berichtet sie mit brechender Stimme. Sie gehörte zu dem Zeitpunkt zu den zehn Besten der Welt. Doch das war ihr egal. Der Kopf streikte: „Ich wollte und konnte nicht mehr. Aus Protest schwamm ich quer zur Bahn – bis mein Trainer Joachim Vorpagel mich aus dem Wasser holte. Ich sagte zu ihm: ,Ich gehe da nie wieder rein.‘ Das war mein Kariereeende. Mit 16 stand ich vor dem Nichts.“

Sie sei in ein tiefes Loch gefallen. Die Spirale drehte sich: Bulimie, psychische Störungen, Depressionen. Es folgten Klinik-aufenthalte. Das Lehrerstudium brach sie ab. Erst als sie eine Ausbildung zur Altenpflegerin aufnahm, ging es ihr besser. Im Zusammenhang mit ihrem Beruf als Krankenschwester fielen ihr türkise Pillen zur Behandlung von Patienten auf. Sie wurde stutzig. „Oral-Turinabol. Ich las den Beipackzettel, die Nebenwirkungen, und erst da begann ich langsam die Zusammenhänge zu erahnen.“ Nach der Maueröffnung las sie das Buch von Brigitte Berendonk: Von der Forschung zum Betrug. „Hier fand ich endlich Antworten, warum ich mir selbst abhanden gekommen war und ich so große Probleme habe.“

Die Vorladung der Zentralen Ermittlungsstelle für Regierungs- und Vereinigungskriminalität (ZERV) brachte Gewissheit: „Man sagte mir, dass ich als Minderjährige Oral-Turinabol bekommen habe. Ich erstattete Anzeige, denn das war ja kriminell, was sie ohne unser Wissen mit uns gemacht haben.“ Und nicht zuletzt habe das Doping verheerende Folgen, so die 56-Jährige: „Ich bin vollerwerbsunfähig und damit beruflich wie gesellschaftlich abgestiegen.“

Auch Yvonne Gebhardt (geb. Steinwall), von 1975 bis 1983 Speerwerferin beim SC Chemie Halle, setzt sich dafür ein, dass die Akte DDR-Doping nicht geschlossen wird. Aus triftigem Grund: „Die Dopingmittel, die mir meine Trainerin Maria Ritschel etwa zwei Jahre lange gegeben hat, zerstörten erst mein Körpergefühl und die Technik, später meine Gesundheit.“ 1997, lange nach dem verletzungsbedingten Karriereende mit 20, bekam die Hallenserin Brustkrebs. „So richtig aufgewacht bin ich erst durch die Doping-Prozesse 2000. Davor habe ich meine gesundheitlichen Probleme nie mit Doping in Verbindung gebracht.“

Was dem anerkannten Doping-Opfer jedoch am meisten zu schaffen macht, sind Auswirkungen des DDR-Dopings auf die zweite Generation: „Mein Sohn ist zwei Jahre nach meinem Karriereende geboren. Heute ist er suchtkrank, hat 29 Entgiftungen hinter sich. Und ich fühle mich als Mutter schuldig und kann ihm nicht helfen.“ Dass sich viele Opfer erst jetzt aus der Deckung wagen, könne sie nachvollziehen: „Sich mit dem Thema und den Schuldfragen auseinanderzusetzen, ist ein sehr schmerzhafter Prozess. Mir geht das alles immer noch sehr nahe“, gesteht sie unter Tränen.

Professor Christoph Lohmann, Chefarzt der Orthopädie in der Uniklinik Magdeburg, hat in der Ambulanz seit gut einem Jahr verstärkt mit Doping-Opfern zu tun. Ihre Berichte handeln u. a. von schweren Organschäden an Herz, Leber, Lunge, von Muskel- und Skelettbeschwerden, Tumoren, Stoffwechselerkrankungen sowie von gynäkologischen Schädigungen. Auch viele Kinder der Opfer sind betroffen, so Lohmann. Sie hätten auffallend oft psychische Probleme.

Um Spätfolgen des Staatsdopings in der DDR wissenschaftlich und zweifelsfrei belegen zu können, hat er eine Vergleichs-Studie initiiert. Ausgangsdaten von 70 Opfern aus der Region liegen inzwischen vor: „Wir müssen der Wahrheit ins Auge schauen und uns den Spätfolgen und damit auch der Verantwortung stellen.“ Doch es gehe nicht nur darum, den Opfern Hilfe und Verständnis zuteil werden zu lassen, „wir sind auch in der Pflicht, die Sportjugend von heute aufzuklären, welche Folgen Doping hat“.