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Leichtathletik 100 Meilen gegen das Vergessen

Jens Schlottag vom MSV Eintracht Halberstadt hat zum zweiten Mal am Mauerweglauf in Berlin teilgenommen.

Von Gerald Eggert 01.09.2017, 23:01

Halberstadt l In Erinnerung an die Teilung Berlins und im Gedenken an die Mauertoten findet seit Jahren um den 13. August der 100-Meilen-Lauf auf dem Mauerweg statt. Jens Schlottag absolvierte ihn 2016 und nahm die 161,9 Kilometer am Stück jetzt noch einmal in umgekehrter Richtung in Angriff.

Als Jens Schlottag (MSV Eintracht Halberstadt) im vergangenen Jahr den 100-Meilen-Lauf auf dem Mauerweg beendet hatte, entschied er diese außergewöhnliche Herausforderung noch einmal anzunehmen. Diesmal in umgekehrter Richtung. „Dadurch haben meine Frau Nicole, die mich erneut auf dem Rad begleitete, und ich jene Abschnitte, die wir 2016 in den Nachtstunden passiert haben, diesmal bei Tageslicht erlebt“, so der Ultra-Läufer.

Der Lauf erinnert nicht nur an den Mauerbau 1961, sondern auch an die Opfer, die bei Fluchtversuchen an der Grenze ums Leben kamen. Diesmal wurde er Dorit Schmiel gewidmet, die in der Nacht vom 18. zum 19. Februar 1962 beim Versuch, mit vier Bekannten die Grenzanlagen am Wilhelmsruher Damm zu überwinden, von Grenzsoldaten erschossen wurde. Am Kilometer 10, wo die damals 20-jährige erschossen wurde, unterbrachen alle Läuferinnen und Läufer das Rennen, legten eine rote Rose nieder und gedachten des Opfers.

Gestartet waren die 350 Einzelläufer am 12. August um 6 Uhr bei 15 Grad und Nieselregen entgegen dem Uhrzeigersinn. Bei Kilometer 20 hatte sich das Läuferfeld weit auseinander gezogen. Bis dahin wollte der Veranstalter Behinderungen der Läufer ausschließen und gestattete fortan die Fahrradbegleitung. Nicole Schlottag übernahm diese Aufgabe wie bei der Premiere und begleitete ihren Mann bis ins Ziel.

„Ich hatte mir zum Ziel gesetzt, unter 24 Stunden Laufzeit zu bleiben. Dafür hatte ich mir einen detaillierten Zeitplan ausgearbeitet, den es nun umzusetzen galt“, so der Emerslebener. Allerdings gelang es ihm in den ersten Stunden nicht, das geplante Tempo zu laufen. Er war viel zu schnell. „Es ist sehr schwierig, das Tempo niedrig zu halten, um Kraft und Energie zu sparen, wenn man doch eigentlich schneller laufen könnte“, ist eine seiner Erfahrungen. Und so ließ er sich an den Verpflegungspunkten reichlich Zeit, um Nahrung und Flüssigkeit aufzunehmen. Das hielt Jens Schlottag für sehr wichtig, auch um seine geplante Zielzeit realisieren zu können.

Bis in die Mittagszeit begleitete Regen die Läuferschar. Das Thermometer war inzwischen nur unwesentlich über 20 Grad angestiegen und verharrte auf dieser Marke. Für Jens Schlottag perfektes Laufwetter.

Am späten Nachmittag erreichten er und seine Radbegleitung Potsdam. Damit hatten sie die Hälfte der Strecke hinter sich gebracht. „Dies ist auch der landschaftlich schönste Streckenabschnitt mit der Havel, den Schlössern und der Glienicker Brücke. Da macht Laufen wirklich richtig Spaß, trotz der bereits zurückgelegten und noch bevorstehenden 80 Kilometer“, beschreibt der 45-jährige seine Eindrücke. Bald war Teltow passiert und die 100-Kilometermarke überschritten. Am dortigen Verpflegungspunkt in einer Turnhalle verharrte das Paar einige Zeit und aß in aller Ruhe. Weil Jens Schlottag sehr gut im Zeitplan lag, nahm er sogar noch eine Dusche und schlüpfte in frische Laufkleidung.

Um 20.15 Uhr nahmen beide die restlichen 60 Kilometer in Angriff. Ab etwa 21 Uhr musste entsprechend einer Vorgabe des Veranstalters mit Stirnlampe und Warnweste gelaufen werden. „Das Laufen in der Dunkelheit ist immer wieder sehr gewöhnungsbedürftig. Man muss sehr genau auf Unebenheiten achten, um keinen Sturz zu riskieren. Hinzu kommt, dass man sich in der Nacht immer wieder motivieren und positiv denken muss. Dies ist ganz wichtig, weil natürlich die Muskulatur in den Füßen und Beinen doch sehr schmerzt. Hin und wieder verspürte ich mal einen Krampf, den ich dann aber irgendwie verdrängt habe. Gerade in dieser Situation entwickelte sich der Lauf zunehmend zur Kopfsache.“

In den frühen Morgenstunden wurde Berlins Innenstadt erreicht, in der das Nachtleben noch auf Hochtouren lief, insbesondere im Bezirk Kreuzberg. Über die Oberbaumbrücke ging es zur East Side Gallery. Mit dem Passieren von Checkpoint Charlie, das Brandenburger Tor, der Reichstag und das Regierungsviertel kündigten sich die letzten Kilometer an. An der Bernauer Straße mit der Gedenkstätte Berliner Mauer war das Rennen auf einige Hundert Meter geschrumpft. Am Friedrich-Ludwig-Jahn-Sportpark stellte Nicole Schlottag ihr Fahrrad ab und lief mit ihrem Mann gemeinsam die letzten 300 Meter auf der Tartanbahn ins Ziel. Freudestrahlend registrierten sie die Gesamtzeit 23:45,7 Stunden. Das waren sogar 15 Minuten weniger als geplant.

Bei der Siegerehrung bekamen alle Finisher eine Urkunde und eine Medaille.

Läufer und Läuferinnen die 2016 und 2017 das Ziel erreicht hatten, bekamen eine Back-to-Back-Medaille, und jene, die das Rennen unter 24 Stunden absolviert hatten eine besondere Gürtelschnalle, die an den Lauf erinnert.

Für die Teilnehmer war es ein bewegender Moment, als sie von Karin Gueffroy, der Mutter des letzten Maueropfers Chris Gueffroy, Urkunden und Medaillen überreicht bekamen.

Und bei der sehr emotionalen Rede des Bürgerrechtlers Rainer Eppelmann, der Schirmherr des Berliner Mauerweglaufes ist, blieb kaum ein Auge trocken.

„Die 100 Meilen Berlin sind für mich der schönste Lauf. Auch wenn er von der Belastung her der schwerste ist, den ich bisher bestritten habe“, lautete das Fazit von Jens Schlottag.