Fußball Jugend forscht auf der Trainerbank
Er ist einer der jüngsten Fußball-Trainer der Altmark im Herrenbereich - wenn nicht gar der Jüngste.
Berge l Eintracht Berges Trainer Jonas Kohlstedt sitzt mit erst 22 Jahren auf dem Chefsessel des Kreisligisten und möcte viel erreichen.
Der gelernte Einzelhandelskaufmann trainiert die Berger Herrenmannschaft seit knapp zwei Jahren. Nach einem schweren Verkehrsunfall, lag Kohlstedt mit offenen Frakturen an Knie, Bein und Hüfte im Koma. Lange Zeit stand sein linker Unterschenkel auf der Kippe. Die Amputation stand kurz bevor. Dank siebenstündiger Notoperationen an Hüfte und Bein, konnten die Chirurgen das Schlimmste abwenden.
An aktivem Fußballspiel ist seither nicht mehr zu denken. Doch es hat sich seit dem Unfall vieles im Leben des 22-Jährigen verändert. Wir von der Volksstimme haben die bewegte Geschichte des ehemaligen Lidl-Mitarbeiter und Kreisliga-Spielers eingefangen.
Wenn man Jonas Kohlstedt nach dem Schlusspfiff zuhört, erlebt man einen aufgeräumten und zugleich selbst reflektierenden Trainer. Vom diplomatischem Wir-Gefühl ist die Rede und selbstkritischer Haltung:
„Wir waren heute nicht konsequent genug, dennoch gebe ich auch mir eine Mitschuld an der Niederlage, da ich das Spiel hätte anders lesen können. Aber wir sind Stand jetzt auf einem guten Weg“, äußert sich der Bergener-Cheftrainer analytisch.
Wenn man nicht wüsste, wie alt Jonas Kohlstedt ist, würden nicht wenige auf ein Alter in den Ende-30ern mutmaßen. Doch der Trainer ist gerade einmal 22 Jahre jung. Damit ist Jonas Kohlstedt einer der jüngsten Trainer der Altmark im Herrenbereich - womöglich sogar des Bundeslandes Sachsen-Anhalt.
„Diese Tatsache ist schon verrückt. Viel verrückter war es in meinen ersten Trainerwochen. Mein Co-Trainer war erst 14 Jahre alt und ich 20. Viele dachten, es handele sich um einen Scherz“, so der junge Trainer.
Die größte Überraschung für viele Außenstehende ist vermutlich der Umgang Kohlstedts mit der Mannschaft. Der Bergen-Coach findet trotz seines jungen Alters Gehör bei den zum Teil 15 Jahre älteren Spielern und strahlt eine natürliche Aura aus.
„Die Autorität zeige ich nur auf dem Platz. Ansonsten habe ich einen engen Draht zu jedem. Jeder im Verein akzeptiert mich und meine Arbeit. Das zeugt von Wertschätzung. Natürlich gibt es unter den Zuschauern ein paar Ältere, die noch nicht ganz überzeugt sind, aber damit kann ich umgehen. Ich wusste vorher schon, was mich erwarten würde“, so Kohlstedt.
Dass der 22-jährige Altmärker zum Cheftrainer befördert wurde hat jedoch nicht nur sportliche Gründe, sondern einen viel ernsthafteren Hintergrund.
Im März 2017 geriet der damals 20-Jährige auf dem Weg zu einer Grillparty in einen Verkehrsunfall. Mit einem Freund fuhr der Spieler der Eintracht auf dem Moped durch die Ipsener Straßen. Doch ein Pkw erfasste ihn und den Fahrer des Mopeds schwer. „Ich wurde sofort in die Notaufnahme nach Magdeburg geflogen. Danach habe ich nur noch Schmerzen verspürt“, so Kohlstedt.
In der Nacht und bis in den Morgen lag Kohlstedt auf dem Operationstisch und musste sich zahlreichen Eingriffen unterziehen. Die Anästhesisten versetzten den Verunfallten in ein künstliches Koma.
„Als ich aufwachte, kam mir alles so irreal vor. Ich habe mich nach dem Fahrer orientiert, und wollte wissen, wie es ihm geht. Erst als mir erzählt wurde, wie schwer die Verletzungen sind und wie lange die Operationen dauerten, realisierte ich meinen Zustand. Es stand auf der Kippe, ob ich mein linkes Bein behalten durfte. Nach der Operation am Bein musste ich einige Monate später erneut operiert werden, da das Bein nicht gerade zusammenwuchs. Das war die härteste Zeit meines Lebens“, so Kohlstedt.
Nach sechsmonatigem Aufenthalt zwischen Operationssaal und Krankenbett, musste Kohlstedt das Laufen völlig neu erlernen. „Ohne die Pysiotherapeuten, würde ich heute nicht am Seitenrand stehen. Da sieht man erstmal, wie hart diese Menschen daran arbeiten, damit Menschen wieder auf die Beine kommen. Das hatte ich früher nie wahr genommen.“
Kohlstedt vollzog während seines Krankenhausaufenthaltes einen Sinneswandel und dachte bewusster über das Leben nach: „Wenn man einen solchen Unfall erlebt hat, wird vieles nicht mehr wichtig und zur Belanglosigkeit. Es gab Tage, an denen ich einfach nur weinte. Doch mit der Zeit habe ich es zu schätzen gelernt, dass ich noch lebe. Und dann habe ich gesehen, wie viele Leute mir persönliche Nachrichten über die sozialen Medien und WhatsApp schrieben.
Da waren über 200 Nachrichten an einem Tag zu lesen. Das hat mich überwältigt. Meine Eltern und Freunde halfen mir, als ich im Rollstuhl saß und schoben mich an. Seit diesem Tag, fühlte ich mich dazu verpflichtet, zurück ins Leben zu kehren. Andere Menschen haben auch Probleme und Gebrechen, die sogar noch schlimmer sind als meine. Deshalb wollte ich wieder nah bei meinen Freunden und dem Verein sein. Ich begann meine Fachhochschulreife, um meinem Leben ein neues Kapitel zu verleihen“.
Mit viel Zuspruch vom Präsidium und den alten Teamkollegen von Eintracht Berge, durfte Kohlstedt nach langem Krankenhausaufenthalt und dem Weg zurück ins Leben, die Mannschaft übernehmen, die nach dem Weggang von Ex-Coach René Stolle, die Trainerposition mit dem damals 20-Jährigen neu besetzte.
Die erste Saison des Newcomers auf der Bank mit Berge, startete im Juli 2017. Nun geht Kohlstedt in seine bereits dritte Saison mit seinem Heimatverein. „Ich bin dem Verein sehr dankbar. Diese Chance kriegt man nur ein Mal im Leben“, so der junge Trainer, der von Vergleichen mit Julian Nagelsmann nichts wissen will.
„So weit bin ich noch nicht und werde ich vielleicht nie sein. Ich habe Respekt vor seiner Leistung, aber ich bin und bleibe Jonas Kohlstedt“, verdeutlicht Berges Chefcoach mit einem Augenzwinkern.
Zu Beginn seiner Trainertätigkeit musste Kohlstedt allerdings noch realisieren, dass es nur auf den Rasen geht, um Verantwortung für andere zu übernehmen. „Als ich die Jungs auf dem Platz sah, juckte es in den Füßen. Gern hätte ich mitgespielt. Aber dann habe ich mir gedacht, dass der Trainerjob auch eine schöne Aufgabe ist.“
Nach mittlerweile zwei Spielzeiten in der Konstellation mit Kohlstedt als Chef an der Seitenlinie, haben sich das Team und der junge Trainer gefunden.
„Es gab anfängliche Schwierigkeiten. Wir mussten erstmal miteinander warm werden. Gerade, weil ich noch so jung bin und es auch ältere Spieler gibt. Denen muss man mit Respekt begegnen und darf ihnen nicht das Gefühl vermitteln, ihnen erklären zu wollen, wie Fußball funktioniert. Das wissen sie schon von selbst. Wichtig war es das Ziel zu erreichen, als Team zusammen zu wachsen und Vertrauen zu gewinnen. Mit mir kann jeder Spieler reden.“
Kohlstedt zu Folge bleibt in der persönlichen Entwicklung als Trainer allerdings noch Luft nach oben. „Ich würde gern ein Spiel noch besser lesen können. Aber je mehr Spiele dazukommen, desto mehr Erfahrung sammle ich. Es treten von Spiel zu Spiel immer wieder Situationen auf, die ich noch nicht erfahren konnte. Aber in denen gewinne ich an Wissen hinzu.
Doch was unterscheidet den Trainer Jonas Kohlstedt vom Spieler Kohlstedt? „Als Spieler habe ich viel auf dem Spielfeld mit meinen Mitspielern geredet und selbst Anweisungen gegeben. Aber ich habe es gehasst, wenn der Trainer von außen viel einwirken wollte. Die Aufnahmefähigkeit leidet, wenn ein Spieler auf dem Platz Vollgas gibt. Ich spreche die Spieler persönlich im Spiel nicht mehr an, da sie zu fokussiert sind und nicht alles auf einmal aufnehmen können. Sie müssen schon von den Mannschaftskollegen eine Menge aufnehmen. Aus Erfahrung weiß ich, dass es im Spiel selbst, nicht mehr möglich ist, die Spieler zu erreichen. Ich motiviere während eines Spiels nur, indem ich den Jungs Mut zuspreche und Lob an sie verteile, bei gelungenen Aktionen. Die taktischen Dinge und Spielideen gebe ich nur in der Halbzeit oder vor dem Spiel an die Jungs weiter.“
Auf was sich die Trainerkollegen in der Altmark noch einstellen müssen, ist dagegen nicht die Strategie des Berger Trainers, sondern das visuell offensichtliche Alter des künftigen Studenten für Erziehungs- und Sozialwissenschaften.
„Die Trainerkollegen liefen vor den Spielen oft zu mir, um zu fragen, wer unser Trainer sei. Wenn ich ihnen dann entgegnete, dass ich der Trainer sei, konnten sie es zunächst gar nicht fassen und reagierten sichtlich überrascht. Sie dachten ich wäre ein Zuschauer oder ein verletzter Spieler.“
Nach knapp zwei Jahren Trainertätigkeit fehlt Jonas Kohlstedt nur noch eines zu seinem Glück. In Klötze steht der nächste Trainerlehrgang an. Dort möchte er den nächsten Schritt seiner Entwicklung gehen und die noch fehlende Trainerlizenz erwerben. Nur eines wird der junge Trainer Jonas Kohlstedt sicherlich nicht mehr: auf ein Moped steigen.