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Ein Tag mit Box-Weltmeister Robert Stieglitz "Hier in Magdeburg habe ich alles, was ich zum Glücklichsein brauche"

Von Janette Beck 29.03.2011, 04:34

SES-Boxer Robert Stieglitz ist Weltmeister, und das möchte er bis zum Karriereende auch bleiben. Ein hehres Ziel im besten Box-Alter von 29 Jahren, zumal es noch genügend Herausforderer gibt, die ihn vom Thron schubsen wollen. Weil es aber schwerer ist, einen Titel zu gewinnen als ihn zu verteidigen – so wie am 9. April in der Bördelandhalle gegen Dimitri Sartison – muss sich der Magdeburger schinden. Und das mehr denn je. Volksstimme begleitete den WBO-Champion einen Tag.

Magdeburg. 6.00 Uhr: Der Wecker rüttelt Robert Stieglitz gnadenlos aus den Schlaf. Normalerweise steht der Boxer erst zwei Stunden später auf, doch Cousin Vitali ist zu Besuch und muss früh los, zurück nach Schweinfurt.

Am Vorabend haben die beiden "bis in die Nacht gequatscht" und Pläne für die Zukunft geschmiedet. "Wir wollen geschäftlich etwas zusammen machen, ich muss ja auch an später denken. Aber noch ist alles in der Schwebe. Bevor ich in irgendetwas investiere, überlege ich lieber dreimal. Ich will kein Geld aus dem Fenster werfen, dafür muss ich zu schwer arbeiten", sagt der gebürtige Russe mit deutscher Staatsbürgerschaft, der in seiner zehnjährigen Profi-Karriere "zugegebenermaßen recht gut verdient" hat. Wieviel, wird nicht verraten. "Über Geld spricht man nicht, heißt es doch in Deutschland. Nur soviel: Ich bin nicht arm, aber sicher auch kein Millionär."

7.15 Uhr: Allerdings sieht das aufgetischte Frühstück eher danach aus, als würde der Champion am Hungertuch nagen: Zur Tasse Kaffee gibt es lediglich eine Schnitte mit Butter und Käse. Dazu gönnt sich "Süßschnabel" Stieglitz einen Riegel Kittekat. Die karge Mahlzeit werde aber nicht vom Geldbeutel, sondern von der Waage diktiert. "Ich bin zu fett, muss Gewicht machen", behauptet der drahtige Modellathlet, der in der Supermittelgewichts-Klasse boxt, wo man(n) nicht mehr als 76,203 Kilo auf die Waage bringen darf. "Momentan wiege ich um die 78,5 Kilo, zweieinhalb müssen also noch runter. Aber das ist kein Problem, ich bin ohnehin nicht der große Esser."

Dafür aber ein Freund großer und schneller Autos. Und so setzt sich Stieglitz um 9.32 Uhr in seinen BMW-Kombi und rast Richtung Leichtathletik-Halle am Fußballstadion. Im Radio läuft Tina Turners "Simply the Best", im Kopf des SES-Profis der Gedanke über seine besondere Beziehung zu Magdeburg. "Andere fahren ins Trainingslager, um mal rauszukommen, ich bestreite meine komplette Vorbereitung auf den Kampf gegen Sartison lieber hier vor Ort", sinniert Stieglitz. "Ich bin ein Gewohnheitstier und am liebsten zu Hause. In Magdeburg habe ich ja auch alles, was ich zum Glücklichsein brauche. Zudem sind die Bedingungen, die SES uns Boxern bietet, optimal und die Wege kurz."

9.48 Uhr: Als der Weltmeister die Laufhalle betritt, ist er allein. Langsam trabend setzt er sich in Bewegung. Das harte Krafttraining vom Vortag steckt ihm offensichtlich noch in den Knochen. "Oh Mann..." hallt es durch die Halle. Doch da ist niemand, der den Champion bedauern kann.

9.58 Uhr: Trainer Dirk Dzemski trifft ein, im Schlepptau Stiegitz‘ Teamkollege Haxi Krasniqi, der ebenfalls am 9. April in der Bördelandhalle in den Ring steigt. "Alles klar Robert?", lautet die (rhetorische) Frage des Trainers, die vom "Sprinter wider Willen" mit einem Nicken beantwortet wird.

Mit einem lauten "hallo Jungs!" schneit Nadine Kleinert herein. "Hab ich doch gleich gesehen, dass ihr da seid. So machen sich nur Boxer warm. Kein Leichtathlet würde auf die Idee kommen, beim Einlaufen die Arme zu schütteln und Löcher in die Luft zu schlagen", erklärt die Kugelstoßerin, die einst selbst mit einer Karriere als Boxerin geliebäugelt und bei Dzems-ki dafür trainiert hatte. "Nadine hängt mit dem Herzen immer noch am Boxen, sobald sie uns hier sieht, schaut sie vorbei und sagt hallo", freut sich Dzemski über die Anhänglichkeit der Vizeweltmeisterin.

"Gut ist im Ring nicht gut genug"

10.23 Uhr: Das Programm wird angesagt: "Sprints durch die Lichtschranke, dreimal 30 Meter fliegend, das Ganze viermal." Krasniqi legt 3,52 Sekunden vor, die Uhr für den Champion bleibt bei 3,66 stehen. "Gut so! Dran denken, nicht volle Pulle", wirft der Coach ein.

Ansonsten wird kaum gesprochen. Dafür geschnauft. Der Zwischenruf "Pause!" kommt einer Erlösung gleich. Die acht Minuten überbrückt Dzemski, um seine knapp fünfmonatige Zusammenarbeit mit Stieglitz zu reflektieren. Die stand zuerst nämlich unter keinem guten Stern, denn der Champion, der nach der überstürzten "Fahnenflucht" seines langjährigen Trainers Torsten Schmitz zum Konkurrenten Sauerland im Oktober alleine dastand, hatte einige Vorbehalte gegenüber dem "Jungtrainer" Dzemski. Sprich, Stieglitz war der Ansicht, dem einstigen Mittelgewichts-Weltmeister fehle es an Fachwissen und Erfahrung, um einen Weltmeister zu coachen.

Doch man raufte sich zusammen. Aus der Not- wurde eine Dauerlösung. "Gut zwei Monate hat es gedauert, aber seit Januar funken wir auf einer Wellenlänge", so Dzemski. Das Problem sei gewesen, "dass Robert Neuem grundsätzlich skeptisch gegenüber steht. Und er dachte, er ist Weltmeister, er ist oben, es geht nicht besser. Ich denke aber, gut ist nicht gut genug. Es geht immer noch was, und Robert ist noch lange nicht perfekt. Aber ihm das zu verklickern, ohne ihn in seinem russischen Stolz zu verletzen, war gar nicht so einfach" , verrät der Coach, der bei seinem Schützling große Reserven in der Schnelligkeit sieht und dabei mit Leistungsdiagnostiker Mario Meier in eine Kerbe haut.

11.13 Uhr: Deswegen also auch das "gehasste" Sprintprogramm, das sich dem Ende neigt. "Super Jungs, ich bin sehr zufrieden. Und was nicht weniger wichtig ist: Keiner hat sich verletzt", lobt der Trainer seine Schützlinge, die in den Seilen hängen und unisono über "schwere Beine" klagen, während sie sich auslaufen. Mit der (wenig tröstlichen) Bemerkung, sie hätten etwas verkehrt gemacht , wenn sie sich zu diesem Zeitpunkt frisch und topfit fühlen würden, verabschiedet sich Dzemski bis zum Sparring, das für den Abend angesetzt ist.

12.00 Uhr: Robert Stieglitz sitzt frisch geduscht in seinem Auto. Normalerweise fährt er jetzt zum Mittagessen zum "Lindenweiler". Hier werden die SES-Boxer von Eckhard Meier, Schwiegervater von SES-Promoter Ulf Stein-forth, oft (und kostenlos!) beköstigt. Aber heute hat es Stieglitz eilig, und so macht er auf dem Weg zu seinem Freund, Ex-Schwergewichtler René Monse, Zwischenstopp bei McDonald‘s. Hier gibt es aber nicht etwa einen fetten Burger und Pommes, sondern Kakao und einen Chicken-Wrap. "Der ist gesund und schmeckt", schwört der Boxer auf seine Art von sportgerechter Ernährung.

Nachdem Monse auf den neusten Stand der Vorbereitung gebracht wurde und man noch kurz über den letzten Klitschko-Kampf philosophiert ("Man gut, dass ich nicht hingefahren bin, das war ein Witz..."), geht‘s ab nach Hause. "Mein Bettchen ruft", spürt Stieglitz die Müdigkeit in allen Gliedern. Das Training fordert seinen Tribut. Doch noch lässt der Boxer nicht alle fünfe grade sein.

14.45 Uhr: Zu Hause angekommen, setzt er sich an den Schreibtisch, schaltet den Computer ein, beantwortet E-mails, leitet Ticketwünsche weiter, sortiert Rechnungen und ruft bei einem seiner Mieter zurück. "Wenn man selbstständig ist und zudem noch Vermieter, dann fällt halt viel Bürokram an. Das ist zwar lästig, muss aber gemacht werden."

Viel lieber geht Stieglitz, der in Scheidung lebt und seinen Sohn Oskar derzeit nur selten sieht, angeln. Am besten auf hoher See. "Aber die Elbe tut‘s auch, doch im Moment haben wir ja Schonzeit, da steht mein Angelzeug im Keller." Entspannung findet ersatzweise auf dem heimischen Sofa statt.

15.45 Uhr: Stieglitz schaltet in den Leerlauf... bis schließlich der Wecker zur Pflicht ruft und den einstündigen "Tiefschlaf" abrupt beendet.

"10 x 200 Meter, da muss er durch "

17.30 Uhr: Der Box-Profi, der seinen Sparringspartner, den Polen Grzegorz Proksa, persönlich vom Hotel Lindenweiler abgeholt hat, trifft im SES-Gym in Olvenstedt ein. Während Krasniqi bereits im Ring steht und sein Sparring absolviert, nimmt Stieglitz eine Zwischenmahlzeit zu sich: Es gibt ein "lecker Mixgetränk aus Aminosäuren, Elektrolyten, Vitaminen und Mineralien". Obendrein kippt er noch einen Eiweißshake hinter.

17.55 Uhr: Die Erwärmung für das Sparring beginnt. Dabei scheint Stieglitz bereits im "Tunnel" zu sein, seinen Sparringspartner würdigt er keines Blickes mehr.

18.25 Uhr: Das ändert sich nun schlagartig. Mit den eindringlichen Worten seines Trainers im Ohr, er solle klug boxen, schauen und in den letzten 30 Sekunden Gas geben und noch einmal klare Treffer landen, um die Runde zu gewinnen, steht Stieglitz im Ring und fixiert sein Gegenüber. Das Zeichen zur ersten von insgesamt sechs Sparringsrunden ertönt. Und schon zu Beginn wird klar, wer Chef im Ring ist. Und das, obwohl der Pole kein "Fallobst", sondern in 26 Profikämpfen ungeschlagen ist. "Ich bin total begeistert von Proksa, ein geiler Kunde – schnell, schlau, witzig – als Sparringspartner ein absoluter Volltreffer", schwärmt Dzemski, während er seinem schwer atmenden Schützling in der Rundenpause das Wasser reicht.

Der ist in seinem Element und kennt keine Gnade. In der vierten Runde dreht Stieglitz erst richtig auf. Die Fäuste entladen sich am Kopfschutz des Gegners mit lautem Knall. Der wehrt sich, so gut er kann, doch Stieglitz‘ Dominanz ist offensichtlich. Am Ende bekommen dennoch beide Lob für ihren Auftritt: "Gut gemacht Jungs, genau so habe ich es mir vorgestellt", verteilt der Trainer Streicheleinheiten. Wohl auch, weil er weiß, dass damit das Tageswerk noch nicht beendet ist.

18.50 Uhr: Es stehen weitere vier Runden Schattenboxen mit Gewichten in den Händen auf dem Plan. Und auch hier geht es um Tempo. Jeweils die letzten zehn Sekunden schnellen die Fäuste in einem Wahnsinnstempo vor und zurück. Dann endlich ertönt der Schlussgong. Alle Anspannung fällt von Robert Stieglitz ab. Der Schweiß rinnt übers Gesicht. Wie ein nasser Boxsack plumpst er auf die Bank. "Ich bin völlig alle..." stöhnt er und findet beim Trainer, der gerade einen Steinforthschen "Kontrollanruf" entgegennimmt, endlich Gehör. "Robert ist müde und platt. Ich denke, wir müssen morgen früh mal den Gang rausnehmen. Abends steht dann aber Tatzentraining an, und am Sonntag sind Tempoläufe geplant. 10 x 200 Meter, da muss er durch", wird der SES-Chef informiert. Für einen kurzen Moment sieht Stieglitz aus, als hätte er in eine Zitrone gebissen. Aber dann ist das Kind im Manne plötzlich wach, als er vom Volksstimme-Fotografen zu einem Tischtennismatch herausgefordert wird...

19.35 Uhr: Robert Stieglitz schließt die Tür des Gyms hinter sich. Bevor es nach Hause geht, holt er noch seine Freundin Tatjana vom Training ab. Die Miss Sachsen-Anhalt 2010 boxt übrigens auch. "Sie hat das schon gemacht, bevor wir uns kennengelernt haben. Aber ehrlich gesagt, finde ich das nicht so toll, dass sie boxt. Aber da kann ich reden wie ich will, sie ist immerhin dreifache Amateur-Landesmeisterin und setzt ihren Kopf durch."

21.40 Uhr: Nach Diskussionen steht dem Boxer nach einem so anstrengenden Tag ohnehin nicht der Sinn. Auch nicht nach Lesen, obwohl er sich schon lange vorgenommen hat, die Biographie von Muhammad Ali (mit persönlicher Widmung!!) zu lesen. Er will seine Ruhe haben. Mit einer Tasse Tee und einem Schälchen Salat setzt sich der Champion vor den Fernseher und schaut Nachrichten.

Es ist kühl, deswegen hat der Hausherr den Kamin angemacht. Gedankenverloren starrt der 29-Jährige ins Feuer. "Eigentlich ist so ein Tag doch ziemlich unspektakulär, ja fast schon langweilig. Trotzdem gibt es für mich momentan nichts Schöneres. Bekloppt, oder?"

23.00 Uhr: Fragt‘s, gähnt und verabschiedet sich. Weltmeister fallen halt nicht vom Himmel, aber vor einer Titelverteidigung oft genug todmüde ins Bett...