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Rennrodeln Die geteilte Karriere der Tatjana Hüfner

Tatjana Hüfner aus Blankenburg hat in ihrer Rennrodel-Karriere alle Höhen und Tiefen durchlebt. Aber die positiven Erinnerungen überwiegen.

Von Daniel Hübner 25.03.2019, 23:01

Erfurt l Wir stehen im Wind, im stürmischen Wind, aber Tatjana Hüfner hat natürlich an alles gedacht. Ihren schlanken Körper hat sie in eine dicke Jacke gepackt, ihre Füße in warme Schuhe. Und eine Mütze schützt ihren Kopf vor den Böen, die an diesem März-Dienstag über Erfurt wehen. Trotz des unangenehmen Wetters stiefelt sie mit dem Autor dieser Zeilen nicht nur über den Domplatz und den Fischmarkt, sondern auch über die Krämerbrücke, die von kleinen Geschäften gesäumt wird. Und zu diesen gehört nicht zuletzt ihr Lieblingseisladen. Tatjana Hüfner liebt Eis.
Das tat sie auch in 16 Weltcup-Wintern als Rodlerin. Das Eis hieß nicht „Vom Winde verweht“, eine Schokolade-Himbeer-Mischung, und nicht Haselnuss-Whiskey. Das Eis hieß nur Eis, wahlweise auch Kunst- oder Natureis, das unter den Kufen ihres Schlittens schmolz. Für Hüfner waren die Eiskanäle die Bretter, die die Welt bedeuten. Obwohl die Bretter nach ihrem Olympiasieg 2010 in Vancouver, dem schönsten Moment ihrer Karriere, immer wackliger wurden.
Neun Jahre später sieht man ihr das nicht an, durch welche Tiefen sie gegangen ist. In diesem zweiten Teil ihrer Karriere. Neun Jahre später lebt ihr Rückblick von den Höhen. „Ich bin froh, dass ich nach der herben Niederlage bei Olympia 2018 in Pyeongchang eine Saison drangehängt habe“, sagt sie.
In Südkorea war sie Vierte geworden. „Und ich bin froh, dass ich das Karriereende so früh verkündet habe.“ Im vergangenen November nämlich in der Volksstimme. „Danach habe ich von so vielen Leuten eine Wertschätzung erhalten – nicht nur als Leistungssportlerin, sondern auch als Persönlichkeit. Somit bleibt bei mir vor allem das Positive haften.“
Ein weiteres Bild, dieser winzige Moment des Friedens, wird ebenfalls haften bleiben. Es war der 26. Januar in Winterberg, als Hüfner gerade ihren zweiten Lauf bei der Weltmeisterschaft absolviert hatte. Draußen dämmerte es längst, es regnete, es war bitterlich kalt. Das Rampenlicht wurde auf andere gerichtet – wie auf Siegerin Natalie Geisenberger.
Hüfner saß indes im Athletenraum des Zielhauses, schaute kurz auf den Ergebnismonitor, dann richtete die 35-Jährige den Blick zu Boden, atmete ruhig. Und hakte gedanklich ihre durchwachsene Saison und letzte WM ab. Sie wurde Zehnte. „Nach solch einer Saison wird es dann auch Zeit, aufzuhören“, hat sie danach erklärt, während sich ihre blauen Augen wässerten.
Sie hätte auch früher aufhören können. Nach den Spielen 2014 in Sotschi „war der Gedanke durchaus da“, berichtet sie. Damals hatte sie nach ihrer Silberfahrt offen Kritik am Bob- und Schlittenverband geäußert. Weil er ihr wegen Unstimmigkeiten ein halbes Jahr zuvor Trainer André Florschütz entzogen hatte, weil sie eine Ungerechtigkeit in der Unterstützung der Bundesstützpunkte in Oberhof und in Berchtesgaden empfunden hatte.
Medien hatten sie dann zur schlechten Verliererin erkoren. „Ich hatte mich falsch verstanden gefühlt“, blickt Hüfner zurück. „Im Nachhinein muss ich sagen, hätte ich nicht spontan gehandelt, sondern die Kritik vorbereitet, wäre meine Wortwahl glücklicher gewesen.“
Meinung, Haltung: Das ist im Leistungssport ein seltenes Gut. „Ich wollte mit meiner Kritik immer kons- truktiv Missstände ansprechen, um eine Verbesserung für alle zu bewirken“, sagt Hüfner. Aufstehen, ansprechen, nur nicht verstecken vor der unangenehmen Seite des Sports: „Das haben wir ihr so mitgegeben“, sagt Mutter Karin. „Tatjana war ein stilles, in sich gekehrtes Mädchen, das aber zielgerichtet seine Rodelkarriere durchgezogen hat.“
Auch nach Sotschi. Denn ein Gedanke ließ sie nicht los. „Es ist immer wieder die Mentalität eines Leistungssportlers hochgekommen, dass man keine Schwäche zeigen darf, dass man sich gegen alle Widerstände durchkämpft. Das hat mich vorangetrieben.“ Auch zu weiteren Erfolgen wie ihrem fünften WM-Titel im Einzel in Innsbruck 2017. Ein Rekord, den sie vor allem dank ihres Lebenspartners Karl-Heinz Grüber und dessen Firma „Teuto“, die ab 2015 in ihren Schlittenbau investierte, aufgestellt hat.
Mentoren hatte sie seit ihrer ersten Schlittenfahrt mit neun Jahren viele. Im heimischen Blankenburg waren es Helmut Zimmermann und Hans-Werner Stollberg, „die mein Talent erkannt haben“. An der Sportschule Oberwiesenthal war es neben den Trainern Andreas Estel und Wilfried Jüchert vor allem ihr langjähriger Techniker Wolfgang Scholz, „der mich als Persönlichkeit geprägt hat“.
2006, nach ihrer Bronzefahrt bei den Spielen in Turin, nahmen sie Bernhard Glass und Norbert Hahn in die Oberhofer Trainingsgruppe auf. „Sie waren entscheidend für mich“, so Hüfner. „Sie haben mich zur Olympiasiegerin gemacht.“
Glass, 61, Olympiasieger von 1980 und heute Trainer in Kanada, kann sich gut an diese Zeit erinnern. „Ich hatte sie gerne aufgenommen, weil ich mir erhofft habe, dass der Konkurrenzkampf mit Silke Kraushaar Früchte tragen würde.“ Nicht unbedingt für Kraushaar, vor allem für Hüfner. „Tatjana war ein ruhiges, zurückhaltendes Mädchen, aber keineswegs defensiv“, sagt Glass.
Die zur Perfektionistin gereifte Hüfner hatte schon damals „muskuläre Disbalancen“. Vor allem im Rücken. „Wir hatten ein Programm für sie ausgearbeitet, um mehr Stabilität reinzubekommen. So konnte sie relativ schmerzfrei fahren“, berichtet Coach Glass, der im November 2010 den Trainerstab an Florschütz übergab.
So schmerzfrei blieb es aber nicht: Nicht 2013, als sie vor Sotschi ein eingeklemmter Ischiasnerv langwierig plagte. Nicht 2015, als sie sich einen Achillessehnenriss zuzog. Zum körperlichen Schmerz kam in jenem Jahr der seelische hinzu: Am 6. Oktober starb völlig überraschend ihr Vater Edgar. „Tatjana hatte einen extremen Bezug zu ihrem Vater“, sagt Karin Hüfner. Die Tochter erinnert sich: „Das hat mich sehr belastet, ich habe mich nächtelang in den Schlaf geweint.“
Ihr Oberhofer Trainer konnte offenbar auch in dieser Situation nicht auf die Athletin eingehen. Kein tröstendes Wort, keine emotionale Unterstützung. Jan Eichhorn, der selbst noch aktiv mit Hüfner rodelte, kam als Nachfolger von Florschütz aus dem Nachwuchs zur Elite. Aber sein Fokus blieb wohl bei der Jugend hängen. Eine individuelle Betreuung hat Hüfner nicht mehr gespürt.
Sie will aber nicht nachtreten, sie will die Vergangenheit ruhen lassen. „Entweder kamen die Trainer mit mir nicht klar oder ich mit ihnen nicht“, erklärt sie zur Zusammenarbeit mit Eichhorn und Techniker Robert Eschrich. „Das kommt auf den Blickwinkel an. Trotzdem habe ich mich oft alleingelassen gefühlt.“ Nur nicht von Bundestrainer Norbert Loch. „Sein Vertrauen habe ich immer gespürt.“ Bis zum Schluss.
Und nun ist Schluss. Tatjana Hüfner hat die Bretter, die ihre Welt bedeuteten, verlassen. Ab jetzt zählt die Erinnerung.
Wir stehen in ihrer Wohnung in Erfurt, schauen hinaus auf den blühenden Stadtteil Brühl und ihren Garten, in dem sie Entspannung findet. Hinter dem Eingang zum Wohnzimmer steht die Glasvitrine mit den Referenzen ihrer Karriere – auf drei Etagen. Fünf Glaspokale für die Siege im Gesamtweltcup, fünf Trophäen für ihre Weltmeistertitel im Einzel und der olympische Medaillensatz. „Ich bin auf alle Erfolge sehr stolz“, sagt sie.
Was jetzt kommt? Vieles, nur keine Zeit für Hobbys. Nicht für die Gartenarbeit, nicht für die nächste Bergtour. Am 1. April tritt die Berufssoldatin eine Stelle in St. Augustin bei Bonn an: „Wir kümmern uns darum, dass der Bedarf an Kinderbetreuung an den Bundeswehr-Standorten gedeckt ist.“
Hüfner hat „Pädagogik der Kindheit“ studiert, doch der neue Job bringt sie mit Kindern nicht zusammen. Dabei könnte sie ihnen vieles vermitteln. Wie sie vieles ihren eigenen Kindern vermitteln will, die sie sich wünscht. „Wichtig ist, dass jeder sich treu bleibt“, sagt sie. „Dass jeder seinen eigenen Weg geht, selbstbewusst gegen alle Widerstände.“
Wie Tatjana Hüfner selbst. Sie sagt: „Ich habe nichts bereut. Ich bin völlig im Reinen mit mir.“