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Durch Trauer die Welt neu entdecken

01.03.2012, 13:51

Es ist sehr schwer, mit der Trauer zu leben. Heftige Gefühle wechseln sich ab oder sind sogar gleichzeitig spürbar: Schmerz, Ohnmacht, Wut und Zorn, Schuldgefühle, Fassungslosigkeit, Schwäche, Angst, Gefühle der Verlassenheit und Sinnlosigkeit. Die Frage: "Warum trifft es gerade mich?" wird zur Klage und Anklage. Der Zustand ist für uns selbst verwirrend und fremd und erst recht für unsere Angehörigen und Freunde. Das Gefühlschaos ist nur schwer nachvollziehbar und Trost ist nicht möglich. Einziger, schwacher Trost vielleicht bringt die Gewissheit, dass jeder diesen Schmerz erlebt.

Trauer verbindet uns oft mehr und tiefer als die Freude. Doch wie mit der Trauer umgehen? Ein zeitliches Maß für die Trauer vorzugeben, ist sicher wenig hilfreich. Genauso wenig wie die Vorstellung, Trauer könne "abgearbeitet", bewältigt werden. Trauer ist nie zu Ende. Sie gehört zu unserem Leben dazu wie die Freude, die ja auch nicht aufhört ("Die Trauer ist eine Freundin der Freude").

Frauen trauern anders als Männer, das finde ich bei Gesprächen in der psychologischen Beratungsstelle immer wieder bestätigt. Frauen sind oft mehr in Kontakt mit ihrer Trauer. Männer gestatten sich die Traurigkeit seltener. Sie erleben es eher als eine Niederlage, diese Gefühle nicht in den Griff zu bekommen.

In der Trauerbegleitung geht es nicht darum, die Trauer aufzulösen, sondern darum, sie auszulösen, zum Fließen zu bringen. Insofern ist Trauerbegleitung auch das richtige Wort, denn die Trauer begleitet uns durchs Leben, und wir können lernen, mit ihr bewusst zu leben. Wenn wir sie verdrängen, kann sie uns krank machen.

In Trauerzeiten werden auch die Beziehungskarten neu gemischt. Trauernde werden vielleicht von Menschen enttäuscht, auf die sie gebaut hatten, Freundschaften können daran zerbrechen. Andererseits erweisen sich Menschen als zuverlässig, von denen man es nie erwartet hatte. Das Leben beginnt sich zu verändern, nichts ist mehr so, wie es war. Wenn wir der Trauer genügend Zeit und Raum geben, wird sie uns neue Erfahrungen, schöne wie schmerzliche, ermöglichen und allmählich auch neue Lebenswege zeigen. Nach und nach können wir uns selbst anders erleben und die Dinge um uns herum neu wahrnehmen.

Durch die Trauer können wir die Welt neu entdecken – bis dahin ist es allerdings ein weiter, aber lohnender Weg. Jeder von uns trauert in eigener Intensität und eigenem Tempo. Trotzdem halte ich den Austausch zwischen den Betroffenen für sehr wichtig und hilfreich. Das ist in Trauerseminaren und Trauergruppen möglich. Sie helfen, das Gefühl von Isolation und Einsamkeit zu überwinden. Auch Trauerberatung schafft Erleichterung. Die Trauer zu spüren und sie anderen zu zeigen, ist vielleicht der einzig mögliche Trost.