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Fans bejubeln Torflut - Defensive verärgert Trainer

16.08.2013, 12:19

Düsseldorf - Fußball-Deutschland hat ein neues Lieblingsthema. Plötzlich fallen zu viele Tore. Was die Fans entzückt, treibt Trainern, Torhütern und Abwehrspielern den Schweiß auf die Stirn.

Der frühere Weltklasse-Keeper Oliver Kahn quittierte die Abschlussfrage von ZDF-Moderatorin Katrin Müller-Hohenstein nach der Übertragung des 3:3 der Nationalelf gegen Paraguay am Mittwoch mit einem gequälten Lächeln. Ob ihm seinerzeit ein 5:4-Sieg lieber gewesen wäre als ein 0:0, wollte "KMH" wissen. Eine klare Antwort blieb der einstige Welttorhüter schuldig, aber Kahns Gesicht verriet: Jedes Gegentor ist für einen ehrgeizigen Keeper ein Albtraum.

So sieht es auch die aktuelle deutsche Nummer 1, Bayern Münchens Torhüter Manuel Neuer. Schon nach dem 0:2 nach 13 Minuten hatte Neuer den Kaffee auf. Bei allen drei Gegentoren war er machtlos, weil die Abwehr ihn im Stich ließ. "Klar haben wir schon zu oft nicht zu null gespielt", meinte Neuer, und forderte: "Das müssen wir wieder lernen."

Auch am 1. Bundesliga-Spieltag gab es eine wahre Torflut. 37 Treffer in neun Partien - zehn Tore erzielten acht Neuzugänge bei ihren Debüts und sorgten bei den Club-Managern für glänzende Augen. Auch die Zuschauer gerieten angesichts der Offensivspektakel ins Schwärmen. Torhüter, Trainer und Defensivkräfte jedoch schlossen sich der allgemeinen Euphorie nur bedingt an. "Wir wollten in dieser Saison weniger Tore kassieren, jetzt fangen wir zu Hause schon mit drei Gegentoren an. Das ist viel zu viel", schimpfte beispielsweise Schalkes Trainer Jens Keller nach dem 3:3 gegen dem Hamburger SV.

Setzt sich der Trend zu mehr Toren wegen der oft offensiven Denkweise der Trainer, die schnelles Umschalten und raketenartige Angriffe fordern, auch am zweiten Spieltag an diesen Wochenende fort? Sami Hyypiä, einstiger Weltklasse-Verteidiger des FC Liverpool und seit dieser Saison allein hauptverantwortlicher Cheftrainer von Bayer Leverkusen, beschrieb vor dem Auswärtsspiel beim VfB Stuttgart seine oberste Maxime: "Wir müssen die Balance halten zwischen Defensive und Offensive, das ist die wichtigste Sache", betonte der Finne, der kein Freund bedingungslosen Angriffsfußballs ist.

Insgesamt gilt: Solange man vorne mehr Tore schießt als man hinten reinbekommt, ist alles gut. Doch der von Bundestrainer Joachim Löw stets propagierte Hang zum Offensiv-Zauber ("Ich liebe das Risiko") birgt naturgemäß auch große Gefahren. Vor allem dann, wenn nach Ballverlusten in der Vorwärtsbewegung nicht alle mithelfen, abzuriegeln und Gegenangriffe zu unterbinden.

Was auch bei Borussia Dortmund - für viele das Vorbild - in der vorigen Saison selten genug klappte, trotz der anerkanntermaßen Klasse-Innenverteidiger Neven Subotic und Mats Hummels. Mit 81 Toren und berauschenden Kombinationen verzückte die Borussia ihre Fans, am Ende aber blieb Rang zwei, mit 42 Gegentoren und 25 Punkten Rückstand auf die Bayern. Die Münchner hatten nur 18 Tore zugelassen und souverän die Meisterschale geholt.

42 Gegentreffer bereiteten BVB-Schlussmann Roman Weidenfeller schlaflose Nächte: "Wenn ich ehrlich bin: Immer wenn ich mit dieser hohen Zahl konfrontiert wurde, zuckte ich zusammen", verriet der Keeper jüngst im "Kicker"-Interview. "Das waren für meinen Geschmack entschieden zu viel Gegentreffer." Laut Weidenfeller, der eine 1a-Saison spielte und deshalb doch noch auf eine DFB-Berufung hoffen darf, müsse der Defensive mehr Augenmerk gelten. "Es ist von großer Bedeutung, dass wir defensiv wieder mehr Stabilität ausstrahlen."

Um das zu erreichen, kommt im modernen Fußball nicht nur den Innenverteidigern, sondern vor allem den Mittelfeldspielern in der Zentrale eine herausragende Bedeutung zu. Jürgen Kohler, einst einer der besten Verteidiger der Welt, strich in der "Bild"-Zeitung (Freitag) heraus, wie wichtig die Arbeit der sogenannten "Sechser" ist. Sie müssten für die Kompaktheit des Teams sorgen. Aber: "Selbst die Sechser in der Nationalmannschaft haben nur den Vorwärtsgang im Kopf. Die Ausgewogenheit stimmt nicht", kritisierte der Weltmeister von 1990. "Und die Wahrheit ist", betonte Kohler: "Titel gewinnt man nur in der Abwehr."

998 Mal gab es seit Gründung der Bundesliga 1963 bisher ein 0:0. Dass an diesem Wochenende noch die Marke von 1000 erreicht wird, scheint angesichts der Defensiv-Probleme und der Stärke der Angreifer eher unwahrscheinlich. Womöglich müssen sich einige doch erst wieder auf das total aus der Mode gekommene Motto des einstigen Schalke-Trainers Huub Stevens besinnen: "Die Null muss stehen."