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Unaufdringlich Jackie Thomaes Familienroman "Brüder"

Vaterlos, schwarz, aufgewachsen in der DDR: Jackie Thomae erzählt von zwei Brüdern und stellt dabei die große Frage nach Prägung und Identität.

Von Sibylle Peine, dpa 08.10.2019, 11:31

Berlin (dpa) - Dies ist die Geschichte der Halbbrüder Mick und Gabriel, die nichts voneinander wissen und den gemeinsamen Vater nicht kennen. Sie haben zwar die gleiche Hautfarbe, sind aber wie Feuer und Wasser und bewegen sich in gegensätzlichen Welten.

Dabei starten beide von einem ähnlichen Punkt aus. Ihr senegalesischer Vater verschwindet früh aus ihrem Leben und lässt sie mit ihren jugendlichen Müttern in der DDR zurück. Beide fallen auf: Mick und Gabriel sind die Schwarzen in einer homogen weißen Gesellschaft. Auf den Klassenfotos sind sie diejenigen, die einen Ton dunkler sind, "also hellgrau, denn die Fotos waren schwarzweiß."

Nach der Wende katapultiert das Leben die Halbbrüder in unterschiedliche Richtungen. Sonnyboy Mick lässt sich im Berlin der 90er Jahren als ambitionsloser Freak zwischen Clubs, Bars und One-Night-Stands dahintreiben, während der ehrgeizige, arbeitswütige Gabriel in London zum weltweit gefragten Stararchitekten avanciert.

"Brüder" von Jackie Thomae (Jahrgang 1972) stellt die Frage nach der Identität und passt damit anscheinend perfekt zu aktuellen Diskussionen, in denen es um Herkunft, kulturelle Prägung und Rassismus geht. Der Roman, der auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis nominiert ist, verleitet zur schnellen Etikettierung, unterstrichen noch durch das Cover mit dem beigefarbenen Streifendesign, das für unterschiedliche Hautfarben zu stehen scheint.

Doch ganz so einfach ist es nicht. Denn "Brüder" ist bei genauerem Hinsehen kein politischer Roman. Das Minderheits- und Rassismus-Thema schwingt zwar untergründig immer wieder mal mit, ist aber nicht dominant. In erster Linie ist es ein Familien- und Entwicklungsroman mit einem präzisen Gesellschaftsporträt der brodelnden Berliner Nachwendezeit vor allem im ersten Teil. Thomae hat hier persönliche Erfahrungen mit einfließen lassen. Sie selbst ist etwa so alt wie die fiktionalen Brüder und wuchs in Leipzig als Tochter einer Deutschen und eines Guineers auf, der die Familie bald verließ. Später lebte sie in der Kunst- und Partyszene Berlins, in der die Hautfarbe, wie sie in einem Interview bemerkte, keinerlei Rolle spielte. Ähnlich wie der Erzeuger der Brüder im Roman meldete sich Thomaes Vater nach jahrzehntelangem Schweigen plötzlich bei ihr.

Der Roman ist ungewöhnlich aufgebaut. Die erste Hälfte erzählt in der dritten Person die Geschichte des liebenswerten, gut aussehenden Hallodris Mick, eines "Fin-de-siècle-Junkies" und Verführers, der über keinen formalen Abschluss und Beruf verfügt und sich mit nicht immer legalen Mitteln so durchwurstelt. Notorisch untreu, lebt er in einer Beziehung mit einer Juristin und verweigert sich einer Vaterschaft.

Im zweiten Teil, zeitlich ein Jahrzehnt später angesiedelt, geht es um den jüngeren Bruder Gabriel. Seine Geschichte wird in Ich-Form abwechselnd von ihm und seiner Frau Fleur erzählt. Ihre Beziehung und das schwierige Verhältnis zum pubertierenden Sohn Albert stehen im Vordergrund. Die erfolgreiche Laufbahn des Workaholics Gabriel wird durch eine impulsive, rabiate Attacke auf eine seiner Studentinnen bedroht. Als sich am Ende der verschwundene Vater aus dem Senegal meldet, scheint die Möglichkeit einer Begegnung am Horizont auf. Bei aller charakterlichen Verschiedenheit ist den Brüdern ein relativ entspanntes Verhältnis zu ihrer Hautfarbe gemein. Gabriel trennt sich sogar einmal von einer Freundin, weil diese penetrant alles unter Rassismusverdacht stellt.

Empört zeigt er sich nur in einer einzigen Szene. In einem paradoxen Fragebogen verlangt die britische Gesundheitsbehörde von ihm, dass er sich selbst kategorisiert, und zwar nach Ethnie, Nationalität und Hautfarbe. Gabriel findet das grotesk: "Nach Ewigkeiten kreuzte ich an, woraus meine Mischung bestand. Aus EU-weiß und African black." Die Themen Rassismus und Diskriminierung werden von Thomae eher beiläufig mitgeliefert, fast leichtfüßig plaudernd im Ton wie der ganze Roman. Diese Unaufdringlichkeit und fehlende Penetranz ist von Vorteil. Die Autorin ist eine stilsichere und unterhaltsame Erzählerin und stark in der Personenzeichnung, allerdings an vielen Stellen leider auch ausufernd und repetitiv.

Jackie Thomae: Brüder, Hanser Verlag, München, 430 Seiten, 23 Euro, ISBN 978-3-446-26415-1

Brüder