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Dystopie Viel mehr als ein Anti-Brexit-Roman: "Die Mauer"

Es hat seinen Reiz, John Lanchesters düstere Zukunftsvision "Die Mauer" als Anti-Brexit- oder Anti-Trump-Roman zu lesen. Doch das greift zu kurz - auch wenn es hier tatsächlich um Abschottung geht. Der britische Erfolgsautor warnt aber vor etwas viel Schlimmerem.

Von Werner Herpell, dpa 19.02.2019, 13:19

Berlin (dpa) - Eine fünf Meter hohe, rund 10.000 Kilometer lange "Nationale Küstenverteidigungsbefestigung", die die gesamte britische Insel umfasst. 200.000 "Verteidiger", die diese gewaltige Mauer in öden oder auch lebensgefährlichen Zwölf-Stunden-Schichten schützen müssen.

Vor den "Anderen": (Klima-)Flüchtlinge, die mit allen Mitteln über das Bollwerk ins Land wollen. Eine Überwachungsgesellschaft, die für Eingedrungene nur Todesstrafe oder Versklavung vorsieht. Junge und alte Menschen, die sich wegen der großen Katastrophe einer jüngeren Vergangenheit sprachlos oder gar feindlich gegenüberstehen.

Was John Lanchester (56), Autor des weltweit erfolgreichen Finanzkrisen-Panoramas "Kapital" (2012), in seinem neuen Roman als Szenario für eine vielleicht gar nicht mehr so ferne Zukunft durchbuchstabiert, ist harter Stoff. "Die Mauer" liest sich anfangs etwas langatmig - wie das zunächst eintönige Leben auf dem steilen Betonwall am Meer für die Wachleute eben so ist. Dann passiert das, was jeder "Verteidiger" fürchtet: ein Angriff der "Anderen", ein Kampf auf Leben und Tod, ein Desaster - mit furchtbaren Konsequenzen.

In diesem zweiten Teil von Lanchesters eindrucksvoller Dystopie nimmt das Buch enorm Fahrt auf. Die Spannung steigert sich sogar noch in einem dritten, locker an Daniel Defoes Abenteuerklassiker "Robinson Crusoe" (1719) angelehnten Abschnitt. "Die Mauer" ist nun ein (freilich nicht immer restlos plausibler) Pageturner, der Leser leidet mit der zunächst noch einfältigen "Verteidiger"-Hauptfigur Joseph Kavanagh und seiner großen Liebe Hifa. Erst ganz am Ende glimmt ein Fünkchen Hoffnung - fast fühlt man sich an Cormac McCarthys apokalyptisches Meisterwerk "Die Straße" erinnert, wo eine zaghaft angedeutete Erlösung auf den Horror folgt.

Die einsame Klasse des 2007 mit einem US-Pulitzerpreis geehrten McCarthy-Romans hat Lanchesters Szenario des Abwehrkampfes zwischen "Wir" und den "Anderen" zwar nicht ganz. In jedem Fall aber ist "Die Mauer" ein Roman, über den derzeit so heftig diskutiert wird wie über kaum ein anderes belletristisches Werk - wohl auch wegen der bitteren Aktualität von Donald Trumps geplanter Mauer zu Mexiko und dem Londoner Brexit-Drama.

Lanchesters deutscher Verlag Klett-Cotta zog die Veröffentlichung (Übersetzung: Dorothee Merkel) deswegen nun sogar einige Wochen vor und wirbt so für sein Buch: "Migration, Klimawandel, Brexit - der Roman der Stunde". Das führt allerdings etwas in die Irre.

Der EU-Austritt Großbritanniens war nämlich noch gar kein konkretes Thema, als sich der in London lebende Journalist und Schriftsteller 2016 an sein neues Buch setzte. "Ich bin wirklich der Meinung, dass der Brexit etwas Vorübergehendes ist. Das werden wir überwinden", sagt Lanchester im Interview von Deutschlandfunk Kultur. "Aber dieser Klimawandel - das ist eben etwas, das sehr viel mehr Einfluss auf uns haben wird und das viel, viel nachhaltiger sein wird."

"Es begann mit einem Traum", erzählt Lanchester über die Buchidee. "Von einem Mann, der Wache steht an einer Mauer, ganz alleine, im Dunkeln. Auf der anderen Seite befindet sich das Meer. Und dieser wiederkehrende Traum, der entwickelte seine eigene Welt, die sich dann zu einer eigenen Geschichte entwickelt hat."

Nicht zufällig sind die "Anderen" des Romans keine heutigen Menschen, die vor Krieg, Gewalt oder Armut in ihrer Heimat flüchten. Es sind Verzweifelte, die eine schon abgeschlossene Klimakatastrophe - der von vorherigen Generationen fahrlässig verursachte oder achselzuckend hingenommene "Wandel" - vertrieben hat.

Wenn es in "Die Mauer" um Joseph Kavanaghs zerstörtes Verhältnis zu den eigenen Eltern geht, dann dürfen sich die noch sorglosen Bürger der Industrieländer im Jahr 2019 durchaus angesprochen fühlen. Als Vater habe er sich ausgemalt, welchen Einfluss Klimaschutz-Konflikte aufs Familienleben haben könnten, sagte Lanchester. "Das könnte innerhalb von Familien zu Brüchen führen."

Mehr als 2200 Flüchtlinge sind allein 2018 im Mittelmeer ertrunken, im Jahr davor sogar über 3100, wie das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR Anfang Januar berichtete. Es könnte noch viel schlimmer kommen, wenn ganze Länder durch "den Wandel" unbewohnbar sind und Millionen Menschen Rettung suchen. Eine Erwärmung des Weltklimas um vier Grad hätte angesichts steigender Meeresspiegel "katastrophale Veränderungen" zur Folge, sagt Lanchester - mit entsprechenden Auswirkungen auf die Weltkarte, auf Gesellschaften und "innermenschliche Beziehungen".

Deswegen ist "Die Mauer" - trotz ihrer Abschottungs-Analogien - kein platter Anti-Brexit- oder Anti-Trump-Roman. Sondern vor allem ein Appell, dem Weltklima zuliebe sofort die Notbremse zu ziehen. "Es ist kalt auf der Mauer" - so beginnt und so endet die Geschichte von Kavanagh und Hifa als Endlosschleife. Zusammen mit Lanchester kann man nur hoffen, dass der offenkundig schon zur Verfilmung vorgesehene Zukunftsentwurf des Engländers dann doch nicht Realität wird.

- John Lanchester: Die Mauer. Roman. Aus dem Englischen von Dorothee Merkel (Original: The Wall). Klett-Cotta, 2019. 348 Seiten, ISBN: 978-3-608-96391-5.

Interview Deutschlandfunk Kultur (4.2.2019)

Informationenen des Verlags