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100. Geburtstag Clarice Lispector - Wiederentdeckung einer Ikone

Die brasilianische Schriftstellerin Clarice Lispector, in der Komplexität vergleichbar mit James Joyce oder Franz Kafka, wurde vor einem Jahrhundert geboren. Ihr Werk ist eng verbunden mit Rio. Ihre sämtlichen Erzählungen liegen nun auf Deutsch vor.

Von Martina Farmbauer, dpa 09.12.2020, 15:17

Rio de Janeiro (dpa) - Es ist ein bezeichnendes Bild: Mit einem Buch auf dem Schoß dreht die Statue von Clarice Lispector dem berühmten Strand von Copacabana den Rücken zu.

"Ich schreibe nicht für die Außenwelt, sondern für mich" - so hatte die brasilianische Schriftstellerin einmal ihre Literatur erklärt. Zu ihrem 100. Geburtstag am 10. Dezember wird sie in Brasilien mit einer Welle von Neuauflagen und Gedenkveranstaltungen geehrt. Auch in Deutschland wird die Autorin wiederentdeckt.

Das Debüt "Nahe dem wilden Herzen" der avantgardistischen Autorin war in Rio bereits in den 1940er Jahren zur literarischen Sensation geworden - ein Roman von großer Radikalität, der die Gefühlswelt der Heldin Joana offenlegt und die konventionelle Rolle der Frau hinterfragt. Die sprachliche Wucht des Buches, das der Schöffling Verlag zur Frankfurter Buchmesse 2013 - Brasilien war das Gastland - wie das ein oder andere Werk der in Brasilien fast kultisch verehrten Clarice Lispector neu auflegte, wirkt bis heute. Es gehört zur Weltliteratur. Lispector selbst verehrte Katherine Mansfield und Virginia Woolf, bezog sich auf James Joyce ("Ulysses"). Der Name des Hundes zu Füßen der Statue von Clarice Lispector: Ulisses.

"Viele Brasilianer haben lange gedacht, dass sie ein Geist ist", sagt Teresa Montero, Autorin des Buches "O Rio de Clarice" (Autêntica Editora). Wer ist diese Schriftstellerin, die hier ein Buch herausbringt und dann wieder wegfliegt, hätten sie sich gefragt. Rund 15 Jahre lebte Clarice Lispector im Ausland - in Neapel, Bern, Washington -, um ihren Mann, einen Diplomaten, zu begleiten, während sie die zwei Söhne des Paares großzog, weiter Ideen notierte, schrieb, veröffentlichte.

Aber, so Montero: "Rio de Janeiro ist Clarice Lispectors Stadt." Die Schriftstellerin, die am 10. Dezember 1920 in dem ukrainischen, damals zur Sowjetunion gehörenden Dorf Tschetschelnyk geboren wurde, flüchtete als Kind mit ihrer russisch-jüdischen Familie einst vor Pogromen nach Brasilien. An der kosmopolitischen Ausrichtung der Literatur des südamerikanischen Landes hat sie wie andere jüdische Einwanderer großen Anteil. In Rio schrieb sie die meisten Bücher, hier spielen viele ihrer Erzählungen, hier starb sie am 9. Dezember 1977.

Zum ihrem 100. Geburtstag ist auf Deutsch im Penguin Verlag kürzlich Band 2 der Erzählungen unter dem Titel "Aber es wird regnen" erschienen. "Endlich wiederentdeckt: die Virginia Woolf Südamerikas", schreibt der Verlag dazu. Die so humorvollen wie tiefgründigen Geschichten vom Leben und seinen Abgründen, die weit zugänglicher sind als die Romane, wurden herausgegeben von Lispectors US-Biograf und Pulitzer-Preis-Gewinner Benjamin Moser. Luis Ruby, der auch den ersten Band "Tagtraum und Trunkenheit einer jungen Frau" (2019) aus dem brasilianischen Portugiesisch übersetzt hatte, wurde für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. Beide Bände waren mehrmals auf der SWR-Bestenliste vertreten. Das Literaturhaus München veranstaltet am Donnerstag einen Lispector-Abend.

Als Clarice Lispector 1959 mit den beiden Söhnen nach Rio zurückkehrte, begann sie, sich regelmäßig zu zeigen. "Von da an begann auch ihre Karriere durchzustarten", sagt Teresa Montero. Mit dem Roman "Der Apfel im Dunkeln" und Beiträgen in Zeitungen und Zeitschriften wurde Lispector in den 1960er Jahren endgültig berühmt.

Ein Spaziergang mit Teresa Montero auf den Spuren Clarice Lispectors ist auch eine Begegnung mit der Geschichte der Stadt. In einem Apartment im Stadtteil Leme wohnte Lispector. Hier entstanden einige der Fotos, die zu ihrem Mythos beitrugen: eine geheimnisvolle, schöne Frau, zurechtgemacht wie ein Filmstar.

In der Straße hatte auch der Gartenarchitekt Roberto Burle Marx sein Atelier, der Architekt und Stadtplaner Lúcio Costa gehörte zu ihren Nachbarn. Die Kultur in Rio blühte, der Bossa Nova war dabei, die Musik zu erneuern. Es war das alte Rio, das elegant und stilvoll gewesen sein muss, bevor Brasília 1960 als Hauptstadt eingeweiht wurde und der Niedergang Rios begann.

© dpa-infocom, dpa:201209-99-630858/2

Martina Farmbauer
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dpa
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