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Preisträgerin Masha Gessens großes Gesellschaftsporträt

Als scharfe Kritikerin der Politik unter Kremlchef Putin hat sich die Journalistin Masha Gessen einen Namen gemacht. Nun schildert sie in einem großen Gesellschaftsporträt, wie autoritäre Züge liberalen jungen Russen zusetzen.

Von Ulf Mauder, dpa 19.03.2019, 11:36

Moskau/Leipzig (dpa) – Als der russische Zoll Masha Gessens Buch "Die Zukunft ist Geschichte" abfing, verbreitete sich die Nachricht zur neuen Arbeit der kremlkritischen Autorin blitzartig. Von Zensurversuchen war da im vergangenen Herbst die Rede.

Passend dazu der Untertitel des Buches (Suhrkamp): "Wie Russland die Freiheit gewann und wieder verlor". Gessen kann sich in diesem Jahr über den Leipziger Buchpreis für Europäische Verständigung freuen.

Die US-Autorin mit russischen Wurzeln schildert unter anderem am Schicksal von vier jungen Menschen, wie die Politik unter Kremlchef Wladimir Putin liberal gesinnten Leuten zusetzt und sie in die Flucht in den Westen treibt. Es ist kein Buch über Masha Gessen, die nach vielen Jahren als Chefredakteurin in Moskau 2013 selbst die Koffer packte und wieder in die USA übersiedelte. Dort hatte sie schon als Teenager gelebt.

Der Grund für Gessens Weggang waren neue schwulen- und lesbenfeindliche Gesetze. Die Autorin, die mit ihrer Partnerin Darya Oreshkina, Tochter des bekannten kremlkritischen Politologen Dmitri Oreschkin, gemeinsam Kinder großzieht, sah ihr Familienleben in Gefahr. Das schwingt zwar mit in ihrem Buch. Doch nimmt sich Gessen andere Fälle vor. Es sind Anfang der 1980er Geborene, die Freiheiten unter Kremlchef Boris Jelzin erlebten, nun aber ein bedrohliches Klima von Hass in der Gesellschaft beklagen.

Für Gessen ist der Umgang mit Homosexualität ein Gradmesser für die Freiheitsliebe einer Gesellschaft. Sie erzählt hier die berührende Geschichte von Alexej Gorschkow, genannt Ljoscha. Als Schwuler wird er in der russischen Provinz geprügelt. Er macht dann Karriere als Dozent an der Uni. Der junge Mann, der auch von seinem Sexleben in Russland erzählt, läuft aber immer wieder Spießruten. Aus Angst um sein Leben findet er schließlich Asyl in den USA.

Auch die Geschichte von Shanna Nemzowa, Tochter des 2015 in Kremlnähe ermordeten Putin-Gegners Boris Nemzow, erzählt Gessen so tiefschürfend wie fesselnd. Dem Leser bieten sich intime Einblicke in das Leben dieser in Russland prominenten Familie. Die Journalistin, die eine Stiftung zum Andenken an ihren Vater ins Leben rief, fand nach dem nicht restlos aufgeklärten Verbrechen Arbeit bei der Deutschen Welle in Bonn.

Gessens Akteure wollen sich - anders als die Putin zugetane Mehrheit – nicht abfinden mit einer zunehmend autoritären Politik. Es sind aber Akteure, die neben dem Willen auch die nötigen Mittel haben, im Westen ein neues Leben anzufangen. Die meisten Russen haben das nicht.

Gesprochen hat Gessen auch mit dem prominenten Soziologen Lew Gudkow und der Psychoanalytikerin Marina Arutjunjan. Zu Wort kommt nicht zuletzt der Putin-Einflüsterer Alexander Dugin, ein rechtsnationalistischer Ideologe, den sie aber nicht selbst traf. Leichte Lektüre ist das alles nicht. Immer wieder bringt sie wissenschaftliche Abhandlungen zur Gesellschaftstheorie. Auf den fast 600 Seiten gibt es viele philosophischen Passagen über totalitäre Systeme - aus dem Werk von Hannah Arendt zum Beispiel.

Schon in ihrem Buch "Der Mann ohne Gesicht" (2012) zeichnete Gessen anhand des Lebens von Putin, der vom KGB-Offizier zum Präsidenten wurde, nach, wie Russland nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion Freiheiten gewann und wieder verlor. Ihr Buch "Die Geschichte ist Zukunft" dreht sich weniger um Putin, als vielmehr um die Sowjetgeschichte und den schleichenden Tod der Demokratie.

Detailliert dokumentiert Gessen die zunehmende Einschränkung von Freiheiten der vergangenen Jahre in Russland und die Übergriffe auf Oppositionelle. Die Leipziger Buchpreis-Jury lobte, dass sie so den Blick schärfe für die Gefährdung der eigenen demokratischen Institutionen. Neu ist die These zwar nicht, dass dieses von Menschen sowjetisch-autoritärer Prägung regierte Land auf ein totalitäres System wie damals zusteuere. Frische Belege dafür bietet Gessen aber allemal in erdrückender Menge.

Dass der Trend zu einer Bevormundung der Menschen wie einst im Kommunismus wohl weiter geht, dürfte Gessen auch künftig Stoff bieten. Zuletzt sind in Russland vor allem junge Menschen zu Tausenden zu Protesten auf die Straße gegangen, weil sie um die Freiheit des Internets fürchten. Das Parlament hatte zuvor die Strafen für unerwünschte Informationen im Internet deutlich erhöht. Schon jetzt sind in Russland viele zum Beispiel in Deutschland zugängliche Internetseiten gesperrt. Den nächsten Schritt hat Putin schon angekündigt: ein autonomes russisches Internet, um unabhängig zu sein vom weltweiten Netz.

Masha Gessen: Die Zukunft ist Geschichte. Wie Russland die Freiheit gewann und wieder verlor, Suhrkamp, Berlin, 639 Seiten, 26,00 Euro, ISBN 978-3-518-42842-9

Informationen zum Buchpreis

Die Zukunft ist Geschichte