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Corona Morpheus über Magdeburg

Wo vor wenigen Tagen noch Hass herrschte, zeigt sich heute Demut, Solidarität und Verständnis - die Stadt schläft, das Land ruht.

Von Nico Esche 30.03.2020, 23:01

Magdeburg l Die Welt scheint eingeschlafen. Magdeburg scheint eingeschlafen. Während ich um diese Zeit vor rund einem Jahr noch beobachten konnte, wie das Café Gehrke ihre Terrasse aufbaute - und somit alljährlich den Magdeburger Frühling verkündet - herrscht nun gähnende Leere vor dessen Tore. Gleiches Bild im Stadtpark, auf den Magistralen, dem Hasselbachplatz. Selbst der 500. Geburtstag unseres wundervollen Doms, dem ältesten und vielleicht schönsten Dom auf deutschem Boden, ging im Wust eines aus Proteinen und Aminosäuren bestehenden, ungreifbaren und fatalen “Etwas” unter.

Wir sind verunsichert, informieren uns bei der Tagesschau, in alter Tradition gemeinsam mit der Familie vor dem Fernseher. Lauschen Radio, scrollen zweifingrig durch sozialen Medien, inhalieren Neuigkeiten über das Virus das die Welt in Atem hält und die Gesellschaft eingeschläfert hat.

Manch einem bekommt dieser Schlaf, der uns berechtigterweise aufgezwungen wurde, besonders schlecht, durchsetzt von verwirrenden Albträumen, gefolgt von vielen weiteren. Existenzängste, Lagerkoller, Verlust von Sicherheit und schwindende Zukunftsperspektive. Morpheus, der griechische Gott der Träume, zeigt heuer seine reichen Facetten.

Ein anderer wiederum nutzt diesen Schlaf um sich zu erholen, erschöpfte Kraftreserven aufzutanken, gewappnet zu sein für die schwere Zeit nach der Pandemie. Es gilt wieder ein Land aufzubauen und die angeschlagene Wirtschaft ins Rollen zu bringen.

Wieder ein anderer überlässt das Träumen den anderen, harret der Dinge und blickt verdrießlich aus dem Fenster, auf leere, sonnendurchflutete Straßen. Hat das Glück von zu Hause aus zu arbeiten, organisiert sich und sein Leben mit der Quarantäne und muss im besten Fall nicht alleine bleiben, isoliert auf wenigen Quadratmetern.

Allen gemein: Die Solidarität, die sich in ihrer vollsten Blüte zeigt, wie ich sie in dieser Form noch nicht erleben durfte.

So ist es nicht einmal vier Wochen her, da die Welt gespalten schien wie zu schlimmsten Kalter-Krieg-Zeiten: Von Unsicherheit und Veränderung irritierte “Alte” hetzten gegen die “Jungen”, die mit ihrer Vision einer besseren Zukunft bewegen und anecken wollten. Die mit Unverständnis konfrontierte Jugend hetzte gegen “die Alten”, die von den schwer realisierbaren Forderungen der Millenials verwirrt schien.

Heute begeben sich Millionen (auch junge) Menschen in Quarantäne, halten sich weitestgehend an Ausgangsbeschränkungen und Kontaktverboten, helfen den Schwachen und Alten während sie zeitgleich den Alltag meistern - das Wohl der Gesellschaft scheint tief verwurzelt in uns, das zeigt sich dieser Tage mehr, als ein hoffnungsloser Optimist, wie ich es bin, je zu träumen gewagt hätte.

Links feuerte gegen Rechts, Rechts gegen Links, eruptiert in diabolischen Anschlägen, das Feuer angefacht durch soziale Medien wie Facebook und Twitter - dem digitalen Mülleimer, Sündenpfuhl und Aderlass jeglicher Generationen, Schichten, Wissenschaftlern und Trolls.

Heute verstummt seit gefühlt Äonen der brennende Hass in den Netzwerken, eine unausgesprochene Waffenruhe lässt das heisere Brüllen der ewig Missverstandenen auf beiden Seiten des politischen Spektrums schallend im Äther ausklingen (über den verwirrt-verblendeten Alu-Hut-Bully aus Mannheim werfe ich hier mal den Mantel des Schweigens).

Begibt man sich regelmäßig auf diese fordernden und fördernden virtuellen Schlachtfelder, wandelt man stets auf dem schmale Grat zwischen Genie und Wahnsinn. Sofern man einen gewissen Sinn für Medienkompetenz entwickelt hat, Differenzieren kann und Geschriebenes einzuordnen weiß, erlebt man dieses als aufschlussreichen, unterhaltsamen wie verstörenden Spaziergang. Doch genau diese Medienkompetenz fehlt so manchem, sieht man sich heute die Tweets und Posts von vier Wochen und später an.

Niederschmetternde Wut, kreischender Hass und blinde Hysterie jaulten pausen- und rastlos durch die digitalen Straßen. Beleidigungen in den buntesten Farben sprenkeln Bits und Bytes, bei denen Shakespeare (“Du Missgeburt voll Mäler! wühlend Schwein! Du, der gestempelt ward bei der Geburt. Der Sklave der Natur, der Hölle Sohn! Du Schandfleck für der Mutter schweren Schoß!”) seine wahre Freude gehabt hätte.

Was seither geschehen ist, frage ich mich unweigerlich. Das Corona-Virus legt unsere Systeme lahm, bringt Helden in weißen Kitteln und Kassierer*innen-Uniformen hervor, lässt die Gesellschaft im Schulterschluss zusammenwachsen - wenn auch nur temporär, dafür mindestens wohltuend.

Die sengende Hitze in Facebook-Kommentaren? Abgekühlt. Beißender Zynismus in Tweets? Zahnlos. Wo sind all die lachenden Smileys unter Facebook-Posts hin, wenn über hungernde Flüchtlinge in Camps geschrieben; wo die wütenden Smileys, wenn über Reformen im Bundestag zur Erhaltung unseres Planeten diskutiert wurde? Im besten Fall dort kanalisiert, wo im angemessenen Rahmen über solch polarisierende Themen diskutiert werden sollte:  auf Podien, Bühnen oder bei Diskussionsrunden, und eben nicht versteckt hinter anonymisierten Fake-Accounts. Zumindest dann, wenn dies wieder möglich ist, versteht sich.

Was sich immer öfter zeigt, sind Solidaritätsbekundungen im Netz. Wissenschaftler gewinnen gefühlt täglich mehr an Reputation und Verständnis - eben jene Menschen, die Ahnung von dem Thema haben, bei dem wir nur verwundert mit den Ohren schlackern können.

Logisch, dass wir uns nach dem Bestehen dieser Krise nicht weinend in den Armen liegen werden. Auch logisch, dass immer noch fortwährend einige wenige Hass verbreiten und ungefragt und unreflektiert ihre Meinung trällern. Eine Sensibilisierung jedoch findet jetzt, exakt in diesem Moment statt, schaut man ins Internet, blickt über die menschenverlassenen Straßen und fiebert hoffnungsvoll den Entscheidungen unserer Politiker entgegen - die einen durchaus beeindruckenden Job machen.

Wünschenswert wäre es. Keine neue Erkenntnis, dass Hass stets Hass hervorbringt - eine selten dämliche Eigenschaft eines ansonsten evolutionär sehr wohl geratenen Lebewesens. Aber ich bin der Hoffnung, dass sich der ein oder andere bei dem Gedanken erwischt, wie gut man es doch selbst hat. Spätestens dann, wenn wir das nächste mal mit Freunden ein Bier auf der Hubbrücke nuckeln, im Moritzhof den nächsten Kunstfilm genießt oder sich in der Datsche einen Burger reindrückt.

Die Welt scheint eingeschlafen. Magdeburg scheint eingeschlafen. Schlaf ist heilend, steckt manchmal voll böser Überraschungen, findet immer ein Ende.

Euer Franz Josef Wag ..., ne, Euer Nico Esche

Wie steht Ihr zur Kultur in sozialen Medien? Was haltet Ihr von der Arbeit der Regierung? Was fehlt Euch am meisten während der Krise und wie zeigt Ihr Eure Solidarität? Schreibt es in die Kommentare und lasst uns Diskutieren.

Brauchst Du jemanden, dem Du dich und deine Sorgen anvertrauen möchtest? Anonym und rund um die Uhr erreichst Du die Telefonseelsorge. Alle Infos findest Du hier oder unter Tel.: 0800/1110111 oder 0800/1110222.