Die Journalistin Masha Gessen enthüllt das Machtsystem des derzeitigen Premiers Putin Mit KGB-Methoden für ein starkes Russland
Der Titel "Der Mann ohne Gesicht" könnte einen Thriller überschreiben. Und ähnlich spannend ist die Enthüllungsgeschichte der unabhängigen russischen Journalistin Masha Gessen, die pünktlich zur Russland-Wahl in deutscher Fassung am Donnerstag auf dem Markt erschienen ist. Es geht um Wladimir Putin, von 2000 bis 2008 Präsident Russlands, seither Premierminister und allen Wahl-prognosen zufolge bald wieder für sechs Jahre russischer Präsident.
Folgt man Gessens Buch, ist dies für Russland eine katastrophale Aussicht. Die Autorin beschreibt den starken Mann in Moskau anhand eigener Recherchen und Gespräche und von Quellen aus dem früheren und heutigen Umfeld Putins als machtbesessenen, demokratiefeindlichen und berechnenden Herrscher.
Von wegen Protagonist der "gelenkten Demokratie", ganz zu schweigen von der Lachnummer "lupenreiner Demokrat". Laut der Journalistin Gessen zählen für Putin nur zwei Dinge: Ein Machtapparat mit einer Struktur wie der Geheimdienst KGB und ein starkes Russland, möglichst so groß wie die frühere Sowjetunion.
Dieses ideologiefreie Denkschema durchzieht Putins Handeln wie ein roter Faden, was das Buch eindrücklich nachweist. In erschreckender Weise werden sämtliche Vorurteile, die über ihn im Umlauf sind, bestätigt.
Da ist zunächst die Enttäuschung des 37-jährigen KGB-Offiziers über seine gescheiterte Geheimdienstkarriere in der DDR, gefolgt vom nächsten Drama: dem schleichenden Untergang der Sowjetunion. Der immer noch auf eine Karriere hoffende Wladimir Putin schwenkt nach außen hin auf Demokratie um und gibt als rechte Hand des St. Petersburger Gouverneurs Anatoli Sobtschak den Unbestechlichen.
Angeblich scheidet Putin zu dieser Zeit aus dem KGB aus. Laut Gessen ließ aber "der KGB seine Agenten niemals von der Leine", sie bildeten vielmehr seit Zeiten der UdSSR "eine aktive Reserve" in Betrieben und Institutionen. Putins Rücktrittsgesuch sei jedenfalls im KGB abhandengekommen.
Die Ära St. Petersburg endet für Putin nach der Abwahl Sobtschaks 1996. Es gelingt ihm, im Apparat des Kremls in Moskau unterzukommen und wurde Chef des neuen Inlandsgeheimdienstes FSB. Den Aufstieg zum Präsidenten verdankt er der Protektion von Boris Beresowski, ausgerechnet einem jener Oligarchen, die er - wie etwa auch Michail Chordorkowski - entmachtet.
"Wir haben nicht einmal Scheiße in diesem Land"
Als Präsident gibt der äußerlich unscheinbare Putin den Macher, der Russland nach dem Chaos der Jelzin-Jahre aufräumen will. Das gelingt auch und verschafft ihm bei Teilen der Bevölkerung jene Popularität, von der er bis heute zehrt.
Der Preis für die Stabilisierung ist hoch: Der neue Kremlchef nimmt den Medien die Unabhängigkeit, schaltet das Parlament weitgehend gleich und bekämpft jede Opposition.
Wes Geistes Kind Putin ist, zeigen seine regelmäßigen vulgären Auslassungen. Vor allem dann, wenn der von ihm gelenkte Staat wieder einmal versagt hat. So beim Untergang des Atom-U-Bootes "Kursk" Anfang des Jahres 2000, als er auf die Frage nach russischen Rettungstauchern antwortet: "Wir haben nicht einmal Scheiße in diesem Land."
Bei den Geiselnahmen in einem Moskauer Musicaltheater und einer Schule in Beslan lässt Putin die Sicherheitskräfte gewaltsam durchgreifen, ohne auf das Leben der Geiseln Rücksicht zu nehmen. Der Präsident zeigt sich als ein gnadenloser Terroristen-Jäger, die er selbst bis auf die Toilette verfolgen will. Zitat: "Dann radieren wir sie eben im Klohäuschen aus."
Die Autorin räumt schließlich mit der Legende vom unbestechlichen Staatsdiener Putin auf: Im Großen wie im Kleinen greift der derzeitige Ministerpräsident gern zu. Chodorkowski kommt nicht nur in den Knast, sondern wird auch sein Vermögen los - an einen Staat, den Putin und seine Leute beherrschen.
Selbstbedienungsmentalität mit Peinlichkeitsfaktor: Im New Yorker Guggenheim-Museum wird Wladimir Putin 2005 die mit Wodka gefüllte Glaskopie einer Kalaschnikow gezeigt, in Moskau rund 300 Dollar wert. Der erste Mann Russlands lässt das Glasgewehr für sich hinaustragen - die Gastgeber sind baff über das Gesicht, das ein Staatspräsident hier zeigt.