1. Startseite
  2. >
  3. Deutschland & Welt
  4. >
  5. "Schweizer und Ostdeutsche eint Bescheidenheit"

Botschafter Guldimann über Wirtschaftskontakte, kulturelle Nähe und das Reformationserbe "Schweizer und Ostdeutsche eint Bescheidenheit"

30.11.2013, 01:09

Der Schweizer Botschafter sondierte kürzlich in Magdeburg die Beziehungen zwischen der Eidgenossenschaft und Sachsen-Anhalt. Steffen Honig sprach mit Tim Guldimann.

Volksstimme: Herr Botschafter, der Wirtschaftsaustausch zwischen der Schweiz und Sachsen-Anhalt bewegt sich im dreistelligen Hundertmillionen-Euro-Bereich. Ist da nicht Luft nach oben?

Tim Guldimann: Das ist tatsächlich nicht viel. Deutschland ist wirtschaftlich für uns vor allem in der Grenzregion ganz wichtig. Der Wirtschaftsaustausch mit Baden-Württemberg ist 30-Mal größer als mit Sachsen-Anhalt. Das zeigt aber auch das Potenzial - ohne sich Illusionen hinzugeben. Nach der Wende ist Ostdeutschland ein Investitionsstandort für Schweizer Unternehmen geworden. Das hängt mit der sprachlichen und kulturellen Nähe zusammen: Man spricht Deutsch. Daneben gibt es hier den Vorteil einer historisch auf den osteuropäischen Markt ausgerichteten Tradition.

Volksstimme: Woran machen Sie die kulturelle Nähe fest?

Guldimann: Es gibt zwischen der Deutschschweiz und Ostdeutschland eine mentale Ähnlichkeit aus ganz anderen historischen Gründen: So etwas wie eine pragmatische Bescheidenheit der Menschen. Das sagt man vielleicht nicht gern zu Westdeutschen, aber in der Schweiz ist die Bezeichnung Selbstdarsteller negativ besetzt. Ich glaube, dafür hat man in Ostdeutschland ein gewisses Verständnis. Schweizer Unternehmer hier sagen mir immer wieder: Sie selbst kommen gut an und haben ein gutes Einvernehmen mit den Menschen. Traditionell wird jedoch Deutschland in der Schweiz mit Westdeutschland identifiziert, der Rhein verbindet und den Osten kennt man schlecht.

Volksstimme: Welche Brücken lassen sich da bauen?

Guldimann: Nehmen wir die Reformation. Wir haben die Chance, Lutherland über das Reformationsjubiläum ins schweizerische Bewusstsein zu rufen, um zu zeigen, dass die Schweiz mit Zwingli und Calvin eine sehr aktive Rolle in diesem welthistorischen Prozess gespielt hat. Dieser ist von Mitteldeutschland ausgegangen. Das gibt die Möglichkeit, Sachsen-Anhalt mit Wittenberg und Magdeburg stärker in unser öffentliches Bewusstsein zu rufen.

Volksstimme: Können Sie das konkretisieren?

Guldimann: Wir müssen das Verständnis der Reformation über Luther hinaus erweitern. Ich wünsche mir, dass die Verantwortlichen, die die Reformationsdekade umsetzen, die Perspektive auch auf Zwingli und vor allem Calvin ausweiten. Konkret: Wenn Ausstellungen vorbereitet werden, geht es nicht darum, einfach zu schauen, ob wir noch ein Exponat zu Luther aus der Schweiz beisteuern können, sondern dass die Ausstellung auf die gesamte Reformation ausgerichtet wird. Unter diesen Bedingungen mobilisieren wir sehr gern das Reformationsmuseum in Genf.

Volksstimme: Sehen Sie dabei auch wirtschaftliche Vorteile?

Guldimann: Sicher, denn das betrifft auch den Tourismus. Wir haben Anfang des Jahres in der Botschaft deutsche und schweizerische Tourismusverantwortliche zusammengebracht. Wenn es um den nordamerikanischen Markt geht, sieht es so aus: Es gibt dort sieben Millionen Lutheraner, aber 41 Millionen Calvinisten. Kommen aus diesem Kreis Gäste nach Lutherland und besuchen auch noch Genf und Zürich, ist das für beide Seiten von Nutzen.

Volksstimme: Bei allen guten Verbindungen - das gescheiterte Steuerabkommen war ein schwerer Dämpfer in den bilateralen Beziehungen.

Guldimann: Die Beziehungen sind unverändert sehr gut. Weil die Deutschen uns verstehen. Das bedeutet nicht, dass sie unsere Positionen übernehmen. Aber die deutsche Regierung ist interessiert daran, Probleme mit der Schweiz zu lösen. Ein Beispiel: Dank 120 bilateraler Verträge beteiligen wir uns als Nicht-EU-Mitglied am Binnenmarkt. Zur Zeit diskutieren wir mit der EU, inwiefern bei Streitfällen, die den Binnenmarkt betreffen, der Europäische Gerichtshof auch für uns zuständig ist. Aus Schweizer Sicht sind das fremde Richter - die wollen wir nicht. Hier diskutieren wir einen Kompromiss. Deutschland hat uns in Brüssel dabei unterstützt, dass die Diskussion geführt und nicht auf die lange Bank geschoben wird.

Volksstimme: Und das Steuerabkommen?

Guldimann: Das ist gescheitert. Und es wird auch nicht wieder aufgewärmt. Im Lichte der Diskussion mit der EU zum Umgang mit Steuertransparenz können wir aber über den automatischen Informationsausgleich sprechen, sofern dadurch unser Finanzplatz im globalen Wettbewerb nicht diskriminiert wird.

Volksstimme: Schweizer Volksentscheide, wie zuletzt über Managergehälter und Maut, finden auch in Deutschland großes Interesse. Schließlich sind das Themen aus dem Koalitionsvertrag von Union und SPD. Was erwarten Sie von der neuen Bundesregierung?

Guldimann: Das Wichtigste für Europa und damit die Schweiz ist, dass wir im bedeutendsten Land der EU eine entscheidungsfähige Regierung haben. Das ist mit der Großen Koalition garantiert. In diesem Sinne hoffe ich - ohne mich in die Innenpolitik einmischen zu wollen - dass der Basis-Entscheid der SPD über den Koalitionsvertrag positiv ausfällt.