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EU-Mitgliedschaft Verhandlungen um Beitritt vor Abbruch

Die EU-Kommission zeichnet in ihrem Fortschrittsbericht zum Beitritt der Türkei einmal mehr ein düsteres Bild der Lage in der Türkei.

Von Constanze Letsch und Ansgar Haase 09.11.2016, 23:01

Istanbul/Brüssel (dpa) l Zur Veröffentlichung des neuen Türkei-Berichts der EU hat der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan von Brüssel eine schnelle Entscheidung über die Beitrittsverhandlungen gefordert. „Ungeniert und ohne Scham sagen sie, die EU-Verhandlungen mit der Türkei müssen überprüft werden“, sagte Erdogan am Mittwoch in Istanbul. „Na los, überprüft sie so bald wie möglich. Überprüft sie schleunigst. Aber wenn ihr sie schon überprüft, zögert es nicht noch weiter hinaus, sondern fällt eure endgültige Entscheidung.“

Erdogan äußerte sich kurz vor der Veröffentlichung des Berichts am Mittwoch. Schon zuvor war jedoch bekanntgeworden, dass der Bericht scharfe Kritik am Staatspräsidenten enthalten wird. Europaabgeordnete hatten im Vorfeld auch einen Abbruch der Beitrittsgespräche gefordert. Eine Empfehlung der EU-Kommission, die Verhandlungen zu unterbrechen, wurde wie erwartet nicht gegeben.

Der zuständige EU-Kommissar Johannes Hahn machte zur Vorstellung des Berichts deutlich, dass die EU gerade vor dem Hintergrund der Flüchtlingskrise auf eine enge Zusammenarbeit mit der Türkei angewiesen sei. Im halben Jahr vor dem Abschluss des Flüchtlingsabkommens mit Ankara kamen demnach noch rund 740 000 Migranten von der Türkei über das Mittelmeer nach Griechenland. Im halben Jahr danach seien es lediglich 18 000 gewesen, sagte Hahn.

Hahn forderte die Führung des Landes allerdings auf, selbst eine Richtungsentscheidung zu treffen. Die jüngsten Entwicklungen in der Türkei seien aus Brüsseler Sicht „zunehmend unvereinbar“ mit dem offiziellen Beitrittswunsch, sagte der Österreicher. „Es ist an der Zeit, dass uns Ankara sagt, was sie wirklich wollen.“

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Als Beispiele für sehr besorgniserregende Entwicklungen in der Türkei nannte Hahn Einschränkungen der Meinungsfreiheit, die Festnahme von Politikern der Oppositionspartei HDP sowie die neuerliche Diskussion über eine Wiedereinführung der Todesstrafe. Im Bericht ist sogar vom Verdacht „zahlreicher schwerer Verletzungen des Verbots von Folter und Misshandlung“ zu lesen.

Europaabgeordnete forderten die EU-Kommission auf, trotz Risiken Konsequenzen zu ziehen. „Die Europäische Union sollte die Beitrittsverhandlungen einfrieren und der Regierung Erdogan deutlich machen: Die nächsten Verhandlungen finden nur statt, wenn es zu einer Rückbesinnung der Türkei auf Demokratie und Menschenrechte kommt“, kommentierte der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Sozialdemokraten im Europaparlament, Knut Fleckenstein.

Der FDP-Politiker und Parlaments-Vizepräsident Alexander Graf Lambsdorff sagte: „Das verzweifelte Festhalten der Mitgliedstaaten und der Kommission an einem gescheiterten Beitrittsprozess ist zutiefst unehrlich und unproduktiv.“ Es führe im Ergebnis nur dazu, dass Populisten in Europa weiter Aufwind bekommen.

Die Türkei-Berichterstatterin der christdemokratischen EVP-Fraktion, Renate Sommer (CDU), kommentierte, die EU-Mitgliedstaaten fürchteten sich ganz offensichtlich aus Sorge vor einer neuen Flüchtlingswelle vor dem offiziellen Einstellen der Beitrittsverhandlungen.

Der türkische Europaminister Ömer Celik kritisierte das Vorgehen am Mittwoch in Ankara. „Wir haben es mit einem Bericht zu tun, der weit entfernt davon ist, konstruktiv und wegweisend zu sein“, sagte Celik. Er sei mit einer Mentalität geschrieben worden, die den „Beziehungen zwischen der Türkei und der Europäischen Union nicht dient“.