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Südamerika Pulverfass Venezuela

Der venezolanische Präsident Nicolás Maduro kämpft vor der Abstimmung zu Verfassungsversammlung um seine Macht.

Von Georg Ismar, dpa 29.07.2017, 23:01

Caracas l Nicolás Maduro ist ein Meister der Inszenierung. Der Präsident Venezuelas steht, natürlich im roten Hemd, auf der Bühne der Avenida Bolívar, nimmt ein Fernglas und schaut auf die Massen in rot. Die Botschaft: Wir sind viele, die Mehrheit, im Kampf gegen einen Putsch von rechts. Doch der Schein trügt. Andere Bilder aus umliegenden Hochhäusern zeigen, dass die Masse gar nicht so groß ist.

Es ist die Abschlusskundgebung für eine Wahl am Sonntag, die bereits zu Hamsterkäufen geführt hat. Maduro will die Verfassung ändern lassen, viele fürchten den Umbau zur Diktatur. Die US-Regierung hat Familien von Diplomaten nun zum Verlassen des Landes aufgefordert. 232.000 Soldaten sind zum Einsatz gerufen worden. Viele fürchten, dass die Wahl der Funken sein könnte, der das Pulverfass Caracas endgültig explodieren lässt. Seit rund 120 Tagen wird gegen Maduro demonstriert. Die dramatische Bilanz: 105 Tote, Tausende Verletzte.

Seine ganze Hilflosigkeit bei der Bewältigung der kolossalen Krise zeigte sich vergangenes Jahr, als landesweit der Strom ausging: Maduro riet den Frauen, auf das Föhnen zu verzichten. Dabei ist das Land enorm reich, hat die größten Ölreserven der Welt. Der Präsident verließ sich allein auf das Ölgeschäft, daher kommen 95 Prozent der Exporteinnahmen. Als der Preis auf zeitweise 30 US-Dollar abrauschte, wurde das zum Fluch.

Maduro kreiert Feindbilder, um seine Macht zu retten. „Das Volk und die Arbeiterklasse werden diese Bedrohung durch die Vögel Hitlers besiegen“, ruft Maduro auf der Avenida Bolívar. Der frühere Busfahrer greift im Kampf um das Sozialismusprojekt nun zum Säbel. Als US-Präsident Donald Trump 13 Funktionäre mit Sanktionen belegen und US-Konten einfrieren ließ, schenkte Maduro allen 13 eine Replik eines Säbels von Simón Bolívar, dem Befreier von der spanischen Kolonialmacht.

Mit dem Säbel will Maduro aber auch die Verfassung bearbeiten, die von seinem Mentor und Vorgänger Hugo Chávez entworfen und vom Volk beschlossen worden war. Am Sonntag werden die 545 Mitglieder gewählt, die die neue Verfassung erarbeiten sollen. Per Dekret hat der Mann mit dem Schnauzer festgelegt, dass die Mehrheit „Volksvertreter“ sein sollen, die den Sozialisten nahestehen. Ihm geht es vor allem um eine Einschränkung des Parlaments, wo das Oppositions-Bündnis „Mesa de la Unidad Democrática“ (MUD) eine deutliche Mehrheit hat.

19,4 Millionen sind zur Wahl aufgerufen. Spannend wird die Wahlbeteiligung, der Lackmustest für Maduro. Die Opposition will die Wahl boykottieren. In einem der seltenen Interviews sagte der Präsident dem russischen Sender RT mit Blick auf die Opposition und die USA, die er gemeinsamer Umsturzpläne bezichtigt: „Wenn Venezuela gespalten wird, wenn die sozialistische Revolution gezwungen ist, zu den Waffen zu greifen, werden wir über die Grenzen hinaus wieder unter gemeinsamer Flagge kämpfen.“

Die Wahrheit ist: Venezuela ist längst tief gespalten. Schlägerbanden greifen immer wieder Demonstranten an, sogar das Parlament wurde gestürmt, Abgeordnete blutig geschlagen.

Mit dem Säbel rasseln inzwischen auch Maduros Gegner. Gerade junge Demonstranten werden immer militanter. Zudem gibt es keinen klaren Führungskopf in der Opposition. Vielleicht war es ein kluger Schachzug der Regierung, den inhaftierten Chef der Partei Voluntad Popular, Leopoldo López, in den Hausarrest zu entlassen. Er macht Henrique Capriles, der Maduro 2013 nur ganz knapp bei der Präsidentschaftswahl unterlegen war, nun die Führungsrolle streitig.

Wenn die Verfassung hin zu einem diktatorischen Modell geändert würde, könne ein Bürgerkrieg ausbrechen, so wird befürchtet. Oder aber die Opposition könne resignieren und ein Exodus einsetzen. Die USA drohen mit dem Stopp der Ölimporte, sie sind größter Abnehmer. Das würde aber auch das Elend der normalen Bevölkerung vergrößern.

Maduro hat nicht das Charisma des 2013 verstorbenen Chávez, genießt aber bei den Armen, die durch die Sozialisten erstmals echte Unterstützung erfuhren, viel Rückhalt.

Auf den Müllkippen um Caracas sind in der Abenddämmerung Hunderte Menschen zu sehen, die nach Essen suchen. Die Kindersterblichkeit ist um 30 Prozent gestiegen. Als Gesundheitsministerin Antonieta Caporale diese Zahlen veröffentlichte, wurde sie gefeuert.

Um einen Eindruck der Tragödie zu bekommen, empfiehlt sich eine Reise an die Grenzbrücke Simón Bolívar. „Am Montag haben wir den Grenzübertritt von 26.000 Personen registriert“, sagt der Direktor der kolumbianischen Migrationsbehörde, Christian Krüger. Sie kaufen dort massenhaft Lebensmittel ein, Frauen lassen sich sogar die Haare abschneiden, dafür gibt es 20 bis 30 Euro. In Kolumbien werden damit natürliche Haarverlängerungen gemacht.

Zwar gehen die meisten wieder zurück nach Venezuela, aber mittlerweile leben 250.000 Venezolaner illegal in Kolumbien. Und das könnte erst der Anfang sein.