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Chemnitz Rechte Demonstranten in der Überzahl

8000 Menschen marschierten am Wochenende in Chemnitz mit Rechtspopulisten. Doch die Gegenbewegung rüstet auf.

02.09.2018, 23:01

Chemnitz (dpa) l Es ist ganz still – obwohl Tausende Demonstranten in einem Straßenzug von Chemnitz stehen. Nur Motorengeräusche von Polizeiwagen sind zu hören. Dem Aufruf der rechtspopulistischen AfD und des fremdenfeindlichen Pegida-Bündnisses sind viele am Sonnabend gefolgt. Es soll ein schweigender Trauermarsch sein – nach dem gewaltsamen Tod eines 35-Jährigen am Sonntag zuvor und anschließenden Ausschreitungen. Die Demonstration, die schon verspätet startete, gerät ins Stocken und wird vorzeitig beendet. Doch viele wollen nicht gehen, sind verärgert. Die Stimmung ist sehr angespannt an diesem Abend in der drittgrößten Stadt Sachsens.

Wasserwerfer fahren heran. Ein großes Polizeiaufgebot an der Karl-Marx-Büste in der Innenstadt steht wütenden Gruppen gegenüber, die „Widerstand“ und „Lügenpresse“ rufen. Als ein Außenstehender auf die Demonstranten schimpft, sie sollen Chemnitz in Ruhe lassen, gehen Einzelne von ihnen auf ihn zu. Die Polizei schreitet sofort ein.

Der Sonnabend sollte für Chemnitz eigentlich ein Befreiungsschlag werden. Buntes Chemnitz – statt braunes. Unter dem Motto „Herz statt Hetze“ strömen Demonstranten zur Kundgebung gegen Rassismus. Auch Politprominenz mischt sich darunter. Doch die Kräfteverhältnisse sind am Ende eindeutig: Zu den rechtsgerichteten Demos zog es laut Polizeibilanz rund 8000 Menschen – zu den anderen Kundgebungen rund 3000. Am Sonntag kamen zu einer kirchlichen Kundgebung nochmal 1000. Dabei hatte eine Initiative aus Bürgern, Unternehmern und Wissenschaftlern zuvor noch mit einem Aufruf an eine schweigende Mehrheit appelliert. Bei den Kundgebungen am Sonnabend wurden 18 Menschen verletzt, darunter 3 Beamte. Die Zahl der Straftaten bezifferte die Polizei auf mindestens 37. Darunter waren Fälle von Körperverletzung, Sachbeschädigung und Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz. Das Zweitligaspiel Dresden gegen Hamburger SV wurde wegen der Großdemonstrationen abgesagt, da nicht genügen Polizeikräfte vor Ort verfügbar waren.

Man ermittele auch zu einem gemeldeten Angriff einiger Unbekannter auf eine Gruppe des SPD-Politikers Sören Bartol, teilte die Polizei mit. Der Vize-Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion schrieb selbst über Twitter: „Ich bin entsetzt. Meine Gruppe aus Marburg wurde gerade auf dem Weg zum Bus von Nazis überfallen. Alle SPD-Fahnen zerstört und einige wurden sogar körperlich angegriffen.“ Auch ein Fernsehteam des MDR wird erst zum Filmen in eine Privatwohnung gelassen und dann gewaltsam aus dieser hinausgeworfen. „Eine Einordnung ist bis zur endgültigen Prüfung nicht möglich“, twitterte der MDR zum Vorfall.

Chemnitz ist seit Tagen in den Nachrichten und Schlagzeilen – in Sachsen, in Deutschland und weit darüber hinaus. Als Tatverdächtige der tödlichen Messerattacke sitzen ein Iraker und ein Syrer in Untersuchungshaft. Nach der Tat hatte es Ausschreitungen in der Stadt gegeben. Oberbürgermeisterin Barbara Ludwig (SPD) betont auf der Kundgebung gegen Ausländerfeindlichkeit: „Von Sachsen und Chemnitz muss heute die klare Botschaft ausgehen: Wir werden mit allen Mitteln des Rechtsstaates den rechten Hetzern entgegentreten.“

Chemnitz, das 2025 Kulturhauptstadt werden will, werden trotz allem bessere Chancen auf eine erfolgreiche Bewerbung zugestanden. Die demokratischen Kräfte müssten dringend gestärkt werden, das sei auch eine der originären Aufgaben der Kultur, sagte der Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates, Olaf Zimmermann, im Deutschlandfunk. So stärke man politische und kulturelle Bildung.

Am heutigen Montag steht der Stadt schon die nächste Großveranstaltung bevor. Zu einem Konzert unter dem Motto „#wir sind mehr“ gegen Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Gewalt haben sich prominente Musiker wie die Toten Hosen, Kraftklub, Feine Sahne Fischfilet und Marteria & Casper angekündigt. Das Konzert ist gratis, das absehbare Interesse bundesweit enorm. Wegen der hochkarätigen Bands oder wegen des ernsten politischen Hintergrunds? Jedenfalls dürfte der Slogan „Wir sind mehr“ diesmal Realität werden.