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EU-Referendum Der Brexit und die großen Rätsel

Zum britischen EU-Referendum sprach Steffen Honig mit Bert Van Roosebeeke vom Centrum für Europäische Politik in Freiburg.

26.04.2016, 23:01

Volksstimme: Was passiert, wenn die Briten für den EU-Austritt stimmen?

Bert Van Roosebeke: Dann betritt die Europäische Union absolutes Neuland mit einigen Rätseln. Artikel 50 des EU-Vertrages sieht für diesen Fall vor, dass die EU-Kommission mit London ein Abkommen verhandelt, dass die künftige Beziehung zwischen der Union und dem Vereinigten Königreich regelt. Wichtig wird den Briten den Zugang zum EU-Binnenmarkt sein. Dieses Abkommen wird das und einige weitere politischen Fragen klären.

Bleiben die anderen 27 EU-Länder außen vor?

Nein, das Abkommen mit den Briten muss von den übrigen EU-Staaten mit einer qualifizierten Mehrheit von 72 Prozent – das sind mindestens 20 Länder – angenommen werden. Diese müssten außerdem 65 Prozent der Bevölkerung der verbleibenden EU-Länder vertreten. Durch diese hohe Hürde können sich die Verhandlungen in die Länge ziehen.

Wie muss die EU diesen Vertrag gestalten, ohne die eigene Existenz aufs Spiel zu setzen?

Ich denke, ein Brexit könnte die Debatte über die Ausrichtung der EU beflügeln, der ein übergeordnetes Ziel fehlt. Es gibt in der EU mindestens drei Lager: Einige Staaten wollen die EU politisch weiter integrieren, andere wollen nur eine wirtschafts- oder finanzpolitische Integration, wieder andere wollen nicht einmal das. Angesichts der verbreiteten Europa-Skepsis wird die kleiner werdende Gruppe der Integrationswilligen versuchen, die negativen Folgen des Austritts für Großbritannien klarzumachen. Das heißt, London wird den Zugang zum EU-Binnenmarkt teuer bezahlen müssen. Auch um weitere Staaten von ähnlichen Referenden abzuhalten.

Ist das der Weg zum Kerneuropa?

Es ist möglich, dass sich durch den Brexit die Staaten, die die enge Integration wollen, und jene, die eine enge Verzahnung innerhalb der Eurozone anstreben, eine gemeinsame Strategie entwickeln. Das könnte eine verstärkte Integration der Eurozone als „Kerneuropa-Projekt“ sein. Allerdings stünden dem auch nach einem Brexit erhebliche juristische und politische Hürden im Wege. Völlig offen ist, ob die Wähler der Eurostaaten solche Änderungen überhaupt wollen. Klar ist aber auch: Das politische Gewicht der Nicht-Eurostaaten innerhalb der Europäischen Union würde dramatisch sinken. Schweden wäre dann plötzlich das wirtschaftlich stärkste Nicht-Euroland.

Würde ein Brexit das Gesamtkonstrukt EU gefährden?

Jein. Die EU wäre nach einem Brexit in ihrer bestehenden Form nur gefährdet, wenn sich in den Verhandlungen mit Großbritannien diejenigen Staaten durchsetzen, die die europäische Integration schwächen wollen. Ein Schritt in diese Richtung könnte ein bilaterales Abkommen sein, das London zwar den Zugang zum Binnenmarkt gewährt, aber keine Übernahme künftiger EU-Regulierungen verlangt. Mit der Schweiz besteht schon eine ähnliche Regelung. Das erscheint derzeit aber nicht sehr wahrscheinlich.

Also würde der Ausstieg in erster Linie die Briten selbst treffen?

Ich glaube schon. Den Bestand der oft geschmähten EU-Regulierung werden die Briten wohl kaum loswerden, wenn sie nicht auf den Binnenmarkt-Zugang verzichten wollen. Sie werden sich auch künftigen EU-Bestimmungen – an deren Gestaltung sie nicht mehr beteiligt sind – beugen müssen, wenn sie die Bedeutung des Finanzplatzes London wahren wollen. Außerdem ist es gut möglich, dass die Schotten sich als Folge eines Brexits für die Abspaltung vom Mutterland entscheiden. Vielleicht aber würden die Briten in wenigen Jahren in einer neuen Abstimmung darüber entscheiden, ob sie angesichts der Vor-und Nachteile die EU wirklich verlassen wollen?

Und wenn die Briten am 23. Juni für den Verbleib in der EU stimmen?

Dann treten die Beschlüsse der Staats- und Regierungschefs der EU vom 19. Februar 2016 in Kraft, die Ausnahmeregelungen für die Briten regeln sollen. Diese müssten aber teilweise vom EU-Gesetzgeber – also Europäischem Rat und EU-Parlament – überhaupt erst angenommen werden. Auch in diesem Fall würde es also etliche Fragezeichen geben.