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Kirchentag Siehst du mich wirklich?

An Botschaften mangelte es dem Kirchentag zum Reformationsjubiläum nicht. Offen bleibt aber, was sie bewirken.

28.05.2017, 23:01

Wittenberg (dpa) l Am Ende hält es die Zuhörer nicht mehr auf ihren Papphockern. „Was Anderes soll uns retten, als die Vernunft?“, hatte gerade Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier auf dem Evangelischen Kirchentag zum Abschluss einer beeindruckenden Rede in die Menge gefragt. Er traf damit einen Nerv. Der Glaube und die Vernunft – der Bundespräsident erinnerte zum Reformationsjubiläum den Kirchentag noch einmal an die DNA der Reformation, die mit Martin Luther (1483-1546) vor 500 Jahren ihren globalen Siegeszug antrat.

Zwar wird immer wieder gemutmaßt, die Evangelischen wünschten sich weniger Politik und mehr Spiritualität von ihren Kirchen. Doch die Sehnsucht nach Frieden, Gerechtigkeit und Menschlichkeit in Zeiten von Populismus und vermeintlich einfachen Lösungen – das zeigte auch das Echo auf Steinmeiers Rede – ist wohl noch immer wach.

Spürbar wurde das auch beim großen Abschlussgottesdienst mit rund 120 000 Beseelten in Wittenberg, an dem Ort, wo Luther mit seinem überlieferten Thesenanschlag einst die Reformation auslöste: Mischt euch ein, hört euch die Geschichten der Flüchtlinge an, folgt keinen Klischees, streitet nicht im Netz, sondern von Angesicht zu Angesicht - und vor allem ohne Waffen. An Botschaften mangelt es der Kirche nicht - wenn sie auch nicht die eine gültige Antwort liefert.

„Du siehst mich“, lautete das Motto über allem. „Doch siehst du mich wirklich?“, hallte es in dem Trubel zurück. In einen christlichen Wohlfühlkosmos konnten sich die Besucher in ihren orangefarbenen Schals nicht zurückziehen. Schon die Polizeipräsenz am Messegelände mit Gepäckkontrollen machte spürbar, dass niemand von der Terrorbedrohung ausgeklammert ist.

Mitten in das Gespräch mit dem Großimam der Kairoer Al-Azhar Moschee über Frieden zwischen den Religionen platzte dann auch die Nachricht über den blutigen Anschlag auf koptische Christen in Ägypten.

Und dann war da noch Barack Obama: Zehntausende freuten sich über den Auftritt des früheren US-Präsidenten. Superstar und Lichtgestalt am Brandenburger Tor – schon am ersten Programmtag erreichte der Kirchentag seinen Höhepunkt.

Bei einem Großereignis im Festjahr des Reformationsgedenkens ging es natürlich auch um die Ökumene – und die von Kirchennahen wie -fernen gebetsmühlenartig wiederholte Frage: Können Protestanten und Katholiken die Teilung nach 500 Jahren nicht überwinden? Der Münchner Kardinal Reinhard Marx bekräftigte unter großem Applaus den Willen zur Annäherung der beiden Kirchen in Deutschland. „Wollen wir zusammengehen? Wir wollen es!“, sagte Marx bei einer Begegnung mit dem EKD-Ratsvorsitzenden Heinrich Bedford-Strohm. Konkreter wurde es aber auch diesmal nicht.

Natürlich gab es für die rund 140.000 Teilnehmer in Berlin auch die Angebote, die einen Kirchentag erst zum Kirchentag machen: Die Bibel-Workshops, die Werkstätten, in denen Besucher Freundschaftsbänder knüpften. Bio-Bratwurst und Fair Trade-Kaffee gehörten ebenso dazu wie vegane Hamburger. Und Musik – viel Musik.

Ob von dem Kirchentag 500 Jahre nach der Reformation ein Ruck ausgeht für die Kirchen, oder ob es eher ein Aufbäumen in einer Zeit mit schrumpfender Mitgliederschaft und gesellschaftlicher Relevanz ist, muss sich noch zeigen. Nach vielen gut besuchten Aktionen zum Reformationsgedenken quer durch ganz Deutschland kommt nämlich wieder der graue Alltag, in dem nicht nur leere Kirchenbänke den Verantwortlichen Sorge bereiten.