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Linkspartei Bartsch: "Mauern haben nie geholfen"

Dietmar Bartsch, Linken-Spitzenkandidat für die Bundestagswahl, fordert Im Volksstimme-Interview eine soziale Investitionsoffensive.

Von Steffen Honig 08.09.2017, 01:01

Volksstimme: Wir erleben im Wahlkampf einen Wettstreit zwischen Linken und SPD zu einem gerechteren Deutschland. Wie definieren Sie Gerechtigkeit?
Dietmar Bartsch:
Im Wahlkampf tritt natürlich keine Partei für Ungerechtigkeit ein. Aber nur wir sagen klar: In Deutschland ist die soziale Balance nicht mehr gegeben. Auf der einen Seite gibt es eine steigende Zahl von Milliardären und Vermögensmillionären. Die 500 reichsten Familien verfügen über ein Vermögen von 692 Milliarden Euro. Das sind zwei Bundeshaushalte. Das ist obszön. Auf der anderen Seite steigt die Zahl der Kinder, die arm sind oder von Armut bedroht sind, und die Zahl derjenigen, die auf Grundsicherung im Alter angewiesen sind. Dann kann man nicht von einem funktionierenden Sozialstaat sprechen. Wir definieren Gerechtigkeit so, dass eine Balance vorhanden ist, der Leistungsgedanke belohnt wird und nicht, dass man durch Vererben leistungslos zu Riesenvermögen kommt. Für weniger Leistungsfähige muss es einen sozialen Ausgleich geben. Als Zielstellung halte ich es durchaus mit Marx: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!“

Wie wollen Sie das schaffen?
Schrittweise. Die Linke tritt für eine Mindestrente von 1050 Euro und eine Anhebung des Kindergeldes auf 328 Euro ein. Wir wollen die paritätische Finanzierung in der Gesundheit wiederherstellen und den Mindestlohn anheben. Dazu gehört der Mut, sich mit den Mächtigen anzulegen, um das zu finanzieren. Wir fordern eine Vermögenssteuer auf private Vermögen bei hohen Freibeträgen – wir wollen schließlich kein Unternehmen kaputtmachen –, eine Erbschaftsteuerreform und Veränderungen bei der Einkommensteuer. Alle Menschen, die bis zu 7100 Euro im Monat bekommen, würden demnach entlastet, darüber gäbe es Belastungen. Unser Konzept ist durchfinanziert.

Welche Rolle spielt dabei das vieldiskutierte bedingungslose Grundeinkommen?
Das ist eine der spannendsten Diskussionen in der Gesellschaft. Es ist bisher in keiner Partei mehrheitsfähig. Auch ich sehe im Moment noch einige Punkte, die geklärt werden müssten.

Was überzeugt Sie nicht?
Das bedingungslose Grundeinkommen wäre damit verbunden, dass sämtliche sozialen Sicherungssysteme abgeschafft werden. Für jede und für jeden und für immer. Da habe ich Zweifel und bin fest davon überzeugt, dass es zumindest eine altersmäßige Staffelung geben sollte. Mit Interesse schaue ich daher nach Finnland, wo das Grundeinkommen-Modell derzeit mit 2000 Menschen getestet wird.

Die Rentenangleichung zwischen Ost und West ist – Jahre später als versprochen – endlich auf dem Weg und soll bis 2025 vollzogen werden. Doch der jungen und mittleren Generation, die heute die Steuern erwirtschaftet, droht im Alter der soziale Abstieg. Wie wollen Sie dies verhindern?
Ich finde die von der Koalition erst für 2025 beschlossene Angleichung völlig inakzeptabel. Sollten wir in die Regierungsverantwortung kommen, wird dieses Paket noch einmal aufgemacht. Das muss schneller passieren und es muss trotzdem weiter berücksichtigt werden, dass es nach wie vor für gleiche Arbeit in Ost und West unterschiedliche Löhne gibt. Es ist immer noch so, dass ein Auszubildender in Magdeburg bei gleicher Leistung geringere Rentenansprüche erwirbt als sein Kollege in Hannover. Und der heutige Lehrling hat mit der DDR wirklich nichts mehr zu tun.

Damit sind wir bei den nach wie vor unterschiedlichen Lebensverhältnissen in Ost- und Westdeutschland. Sehen Sie Fortschritte?
Ich finde die von der Koalition erst für 2025 beschlossene Angleichung völlig inakzeptabel. Sollten wir in die Regierungsverantwortung kommen, wird dieses Paket noch einmal aufgemacht. Das muss schneller passieren und es muss trotzdem weiter berücksichtigt werden, dass es nach wie vor für gleiche Arbeit in Ost und West unterschiedliche Löhne gibt. Es ist immer noch so, dass ein Auszubildender in Magdeburg bei gleicher Leistung geringere Rentenansprüche erwirbt als sein Kollege in Hannover. Und der heutige Lehrling hat mit der DDR wirklich nichts mehr zu tun.

Nach den G-20-Krawallen ist der Linksextremismus stärker in den Fokus geraten. In Sachsen-Anhalt wird es dazu eine Untersuchungskommission des Landtages geben. Sehen Sie darin auch ein Problem für die Linke?
Meine Partei lehnt Gewalt gegen Personen und Sachen ab. Das habe ich auch zu Hamburg gesagt. Die dort von der Linken angemeldete Demonstration war im Übrigen bunt, friedlich und vielfältig. Die Randale hat mit linkem Denken und Handeln nichts zu tun, hat aber linker Politik geschadet.

Die Linke gilt nicht als Law-and-Order-Partei, setzt sich jedoch auch für mehr Polizei ein. Warum dieser Umschwung?
Das ist kein Kurswechsel. Über Jahre habe ich als Haushaltspolitiker den Etat des Innenministers begleitet. Es gab seinerzeit bei Minister de Maizière ein Aha-Erlebnis: Als ich nämlich als Erster gefordert habe, den Personalabbau bei der Polizei zu stoppen. Die Polizei im Bund und den Ländern ist unter dem Druck von Schäubles schwarzer Null zur Sparbüchse der Nation gemacht worden. Seit 2000 sind 17 .000 Polizeistellen abgebaut worden. Wo die Linke in Regierungsverantwortung ist, wurde das beendet. Jetzt endlich überall. Ich finde wichtig, dass die Polizei bürgernah ist. Vor denen, die täglich auf der Straße im Einsatz sind, ziehe ich den Hut. Ich verwahre mich aber dagegen, dass die Union bei jedem Anschlag nach schärferen Gesetzen ruft. Die sind wirksam genug. Polizei und Justiz müssen nur in die Lage versetzt werden, die Gesetze anwenden zu können.

Obwohl Sie das TV-Duell zwischen Angela Merkel und Martin Schulz als „großkoalitionäres Therapiegespräch“ bezeichnen. Und könnten doch zufrieden sein: Der SPD-Kandidat hat ein Regierungsbündnis mit der Linkspartei nicht ausgeschlossen.
Den Kopf von Martin Schulz muss ich mir nicht machen. Ich kämpfe für eine starke Linke, nicht für eine Koalition. Das Koalitionsgerede nutzt nur den Konservativen, weil sie einen Teil der potenziellen Wähler von SPD und auch der Linken verunsichern wollen. Im Wahllokal werden ausschließlich Parteien angekreuzt. Je mehr Stimmen wir bekommen, umso mehr wird sich in der nächsten Koalitionsvereinbarung von unseren Inhalten widerspiegeln.

Die Linken-Führung hat stets betont, mit der SPD nur koalieren zu wollen, wenn die SPD ihre Politik grundsätzlich ändert. Reichen Ihnen da die Schulz’schen Ansätze?
Richtig und wichtig ist erst einmal, dass die SPD ihre Politik auch korrigieren will. Sollten es die Zahlen am Wahlabend hergeben, wird es gewiss auch Gespräche geben. Unsere Wahlziele sind eindeutig: dritte Kraft bleiben, ein zweistelliges Ergebnis schaffen und einen Politikwechsel erreichen. Das heißt auch, dass wir selbstverständlich bereit sind, Regierungsverantwortung zu übernehmen.

SPD und Grünen sind die Nato-Gegnerschaft und Absage an Auslandseinsätzen ein Dorn im Auge für eine Koalition. Gibt es Spielraum bei den Linken?
Seit Jahren fordern wir, dass die Nato umgewandelt wird in ein System kollektiver Sicherheit mit Einbeziehung Russlands. Die Nato in bisheriger Form ist ein Relikt des Kalten Krieges. Deutschland und Europa müssen sich die Frage stellen, wie Sicherheit im 21. Jahrhundert gestaltet werden kann. Da werden alle Beteiligten neu denken müssen.

Die Kanzlerin will, um Arbeitsplätze zu sichern, der Autoindustrie keine Vorgabe beim Dieselaussteig machen. Die Linkspartei fordert klare Vorgaben. Wie wäre das zu bewerkstelligen?
Bei diesem Skandal hat auch die Regierung versagt. Die Kanzlerin redet mit den Verursachern und nicht mit den Betroffenen. Es ist völlig inakzeptabel, dass sich die Autoindustrie einfach so herausschleichen kann. Es ist zu Lasten der Verbraucher und der Umwelt manipuliert worden. Alles, was bisher dazu debattiert wurde, ist unzureichend. Was zeigt, dass Frau Merkel und noch mehr Minister Dobrindt Politik im Sinne der Automanager betreiben. In den USA gibt es Verfahren gegen die Verursacher der Betrügereien und bei uns erhält Ex-VW-Chef Winterkorn täglich 3100 Euro Rente. Unfassbar!

Und was ist mit der Zukunft der Dieselautos?
Ich plädiere jetzt für keine Jahreszahl für den Ausstieg. Ich finde z.B. 2030 völlig willkürlich, hängt das doch auch von der technologischen Entwicklung ab. Wenn deutsche Ingenieurskunst es schafft, dass ein Auto erkennt, wann die Schadstoffsoftware abgeschaltet werden muss, denke ich, dass die Ingenieure entsprechend motiviert auch dafür sorgen werden, dass unsere Autos umweltverträglich sind. Mindestens ebenso wichtig sind zukunftsfähige Konzepte für den öffentlichen Verkehr.

Die Bewältigung der Flüchtlingskrise bleibt eine Mammutaufgabe, wird dafür genug getan?
Die Bundesregierung hat an vielen Stellen versagt, was durch ein großes Engagement der Gesellschaft ausgeglichen wurde. „Fluchtursachen bekämpfen“ ist zu einer Floskel geworden. In den vergangenen vier Jahren hat die Koalition mehr Waffenexporte genehmigt als jede zuvor. Deutsche Nahrungsmittelexporte machen in Afrika die Landwirtschaft kaputt. Linken-Position ist, dass jede und jeder in seinem Geburtsland seine Fähigkeiten entfalten kann und nicht fliehen muss. Flüchtlinge sind die Botschafter der Kriege und des Elends auf der Welt. Frau Merkel macht Deals mit Diktatoren, um diese Menschen fernzuhalten. Mauern haben aber in der Geschichte noch nie geholfen. Als ich im April 2015 im Bundestag auf Prognosen von 500.000 Flüchtlingen hingewiesen habe, wurde mir noch Panikmache vorgeworfen. Zum Jahresende war es die doppelte Zahl und Deutschland schlecht vorbereitet.

Die Integration wird in den kommenden Jahren Milliarden kosten. Wie wollen Sie dies der Bevölkerung vermitteln, damit der soziale Frieden keinen Schaden nimmt?
Wir brauchen eine soziale Investitionsoffensive. Die Menschen würden damit sehen, dass niemandem etwas weggenommen wird. Das Geld ist da: Im ersten Halbjahr 2017 hatten wir einen Überschuss von 18,3 Milliarden Euro. Warum wird das gehortet, wo wir einen immensen Investitionsbedarf in der Infrastruktur, bei Schulen, in Kitas und Krankenhäusern haben? Zudem müssen die Gesetze durchgesetzt werden. Wir haben ein Meldegesetz, wieso kann der Terrorist Amri sich mit zwölf Identitäten tarnen? Solches Staatsversagen darf sich nicht wiederholen. Die Sozialsysteme müssen zukunftsfest gemacht werden und wir brauchen eine grundlegende Gesundheitsreform. Wir müssen zurück zur Parität bei den Versicherungsbeiträgen und die Beitragsbemessungsgrenze sollte fallen. Wir brauchen bei der Rente eine Reform, die dafür sorgt, dass im Alter niemand arm sein muss. Das kann man hinbekommen, es gibt für alles Vorschläge, in Österreich bekommen Rentner im Durchschnitt 800 Euro mehr. Wir dürfen nicht Wasser auf die Mühlen jener lenken, die die Schwachen gegen die Schwächsten ausspielen wollen.

Die AfD hat eine ganz einfache Lösung: Grenzen zu. Was halten Sie davon?
Gar nichts. Das ist inhuman und auch ökonomisch unsinnig. Wer ernsthaft meint, bei der Exportnation Nummer Eins Grenzen zumachen zu können und nicht erkennt, dass dies einen wahnsinnigen ökonomischen Schaden anrichten würde, streut den Leuten Sand in die Augen. Ich nehme an, dass das ganz bewusst geschieht, um Stimmungen zu schüren und den Nationalismus wieder aufleben zu lassen. Deutschland ist übrigens Profiteur der Europäischen Union und des Welthandels.

Die Außenpolitik ist durch die Spannungen mit der Türkei in den Mittelpunkt des Wahlkampfes gerückt. Die Linkspartei fordert wie neuerdings auch SPD und CDU den Abbruch der EU-Beitrittsgespräche. Warum?
Die Parteien der Großen Koalition haben bisher viel geredet, aber wenig getan. Es werden weiter Waffen in die Türkei geliefert und Hermes-Bürgschaften ausgereicht, es sind weiterhin Bundeswehrsoldaten mit unterschiedlichen Mandaten in der Türkei. Da müssen wir ran. Es darf keine EU-Vorbeitrittshilfen geben. Erdogan müssen deutliche Stoppzeichen gesetzt werden. Gleichzeitig müssen wir die Zivilgesellschaft stärken, weil die Türkei zu wichtig ist, um das Land einfach aufzugeben. Die Beschwichtigungspolitik von Frau Merkel jedenfalls ist krachend gescheitert. Ich kritisiere aber, dass beim „Duell“ genannten Paarlauf gegen beschlossene Wahlprogramme Dinge verkündet worden sind, bei denen ich nicht sicher bin, ob sie nach dem Wahltag halten.