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Erinnerungen Frühlingsträume in Prag

Vor 50 Jahren schaute die Welt nach Prag. Der freie Journalist Hans-Jürgen Fink hat den Prager Frühling vor Ort miterlebt.

Von Hans-Jürgen Fink 07.08.2018, 23:01

Verkehrte Welt! Da waren wir an den westdeutschen Universitäten gegen den „Muff von tausend Jahren – unter den Talaren“ lautstark gegen das akademische Establishment auf die Straßen gegangen – und nun erlebte ich im März 1967 in der Aula der Prager Karls-Universität eine Versammlung von Professoren, die in ihren historischen Gewändern mit Pomp, Stolz und Würde die Einführung der neugewählten Magnifizenz feierten. So, als ob sie ein fast trotziges Zeichen abendländischer Tradition in einem grauen Umfeld sozialistischer Gleichmacherei setzen wollten. Auch sonst wies Prag manch bunten Tupfer auf. Die Kafka-Konferenz 1963 hatte bereits wichtige Debatten-Fenster geöffnet.

Oft genug aber zeigte das Novotny-Regime auch sein anderes Gesicht. In der Nacht zum 1. Mai kamen mir auf der Nationalstraße Gruppen junger Leute mit blutunterlaufenen Gesichtern entgegen. Wieder einmal hatten Sicherheitskräfte das traditionelle Majales-Fest der Verliebten und Happening-Künstler niedergeknüppelt, darunter viele Kinder der Polit-Prominenz. Nervös war die KPC vor allem wegen des wirtschaftlichen Niedergangs. Nicht zufällig zogen Studenten Ende Oktober 1967 mit dem Slogan durch die Straßen: „Wir wollen Licht!“ Tagelang waren ihre Wohnheime auf dem Strahov ohne Strom. Wiederum reagierte die Polizei mit brutaler Gewalt. Die Krise war da.

Als der Slowake Alexander Dubcek am 5. Januar 1968 an die Stelle Novotnys trat, fragten alle: „Dubcek, wer?“ Niemand ahnte an diesem kalten Wintertag, dass ein innerkommunistischer Putsch der Beginn eines wunderbaren Frühlings werden sollte.

Noch aber waren die alten Mächte im Spiel: Regelmäßig erhielt ich ein Gratis-Abo der „FAZ“. Eines Tages blieb es aus. Als ich nachforschte, landete ich schließlich in einem Dachstübchen der Hauptpost bei einem älteren Herrn. Wir unterhielten uns freundlich und schließlich fröhlich. Denn eigentlich, so führte er mir mit vielen Tricks vor, war er ein Zauberkünstler. Kurz darauf war die „FAZ“ wieder regelmäßig in meinen Händen. Die Zensur, meldeten die Zeitungen Anfang März, löste sich selber auf. Kurz zuvor schon waren alle medialen Dämme gebrochen. Grund dafür war die öffentliche Aufarbeitung der Schauprozesse in der Stalin-Zeit.

Zehntausende hörten gebannt, wütend und erschrocken die schrecklichen Berichte der Überlebenden, Hunderttausende verfolgten sie stundenlang an den Radioapparaten. Die Forderung nach Rehabilitierung aller Opfer, nicht nur der kommunistischen, gehörte deshalb zu den zentralen Elementen des Aktionsprogramms der neuen KPC-Führung vom 5. April.

Dieser „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“, der bürgerliche Rechte und demokratische Freiheiten garantieren sollte, erwies sich als Slogan mit ungeheurer massensuggestiver Kraft. Dubcek war sein Idol, dem mehr als 80 Prozent der Tschechen und Slowaken vertrauten. Sie alle fanden zusammen in einem fühlbar neuen Nationalstolz und Selbstbewusstsein. Nie wurde dies sichtbarer als beim traditionellen Umzug am 1. Mai: Dubcek und seine Mannschaft nicht unerreichbar auf hohem Podest, sondern Auge in Auge mit Bürgerinnen und Bürgern, die ihn aus freien Stücken bejubelten und beschenkten. Nur einmal noch, im Frühjahr 1990, mit DDR-Außenminister Meckel in Prag, bin ich ihm so nahe gekommen.

Die Warnsignale aus Moskau, Warschau und Ostberlin hörten wir wohl. Namentlich, als Walter Ulbricht sich in Karlsbad als ideologischer Lehrmeister aufspielte, aus Angst vor einem Frühling im eigenen Staat. Und dies zu Recht. Selbst vor DDR-Grenzern machte die Neugier nicht Halt. In Marienborn wurde ich einmal wegen des tschechischen Autokennzeichens aus der Schlange herausgewinkt. Über eine Stunde lang wollten die jungen Männer von mir wissen, wie der Frühling in Prag sich anfühlte.

Doch allen Drohungen und Warnungen aus den Bruderländern zum Trotz obsiegte die Hoffnung. Es war Sommer, jeder, der wollte, konnte ins Ausland fahren. Ich war mit tschechischen Freunden in Mamaia am Schwarzen Meer verabredet. Zwei Tage vor dem Einmarsch fuhr ich los. Als ich sie dort traf, herrschte ringsum tiefste Verzweiflung. Kehren wir in die Heimat zurück? Oder emigrieren wir in den Westen?

Quälend lag diese Frage über dem Camping-Platz, sie trennte Männer und Frauen, Eltern und Kinder. Heimat unter Sowjet-Kommunismus oder Freiheit im Exil? Grausame Entscheidung. Für mich war es leichter. Im September fuhr ich zurück in das nunmehr besetzte Prag, um mein Zimmer zu räumen. Kaum jemanden traf ich an, den ich kannte. Und doch fiel der Abschied schwer: Der Abschied von einem Traum, der mich dennoch mein ganzes Leben begleitet.

Im Magdeburger Dokumentationszentrum findet morgen ab 19 Uhr eine Podiumsdiskussion zum Thema „Prager Frühling“ unter anderem mit Hans-Jürgen Fink statt.