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Flüchtlingskrise Schulz stützt Merkel-Kurs

Mit Grenzschließungen ist die Flüchtlingskrise nicht in den Griff zu bekommen, sagt Martin Schulz (SPD).

20.01.2016, 23:01

Volksstimme: Herr Schulz, in Europa verzeichnen nationalistische Strömungen derzeit großen Zulauf, in Sachsen-Anhalt steht die AfD in Umfragen bei 15 Prozent. Woran liegt das?

Martin Schulz: Es gibt bei vielen Menschen ein tiefes Verunsicherungsgefühl. Viele haben den Eindruck, die Politik kann Probleme nicht mehr lösen und kümmert sich nicht mehr um sie. Dieses Gefühl des Abgehängt-Seins und die Angst vor den immer größeren Problemen und Krisen reicht bis weit in die Mitte der Gesellschaft. Und das nutzen die Populisten aus, und versuchen den Menschen weiszumachen, dass mit platten Parolen wie ‚Grenzen dicht‘ oder ‚Ausländer raus‘ die Probleme gelöst werden können. Das ist Unsinn, denn komplexe Pro- bleme bedürfen komplexer Antworten. Die Populisten haben für alles einen Sündenbock, aber für nichts eine Lösung.

Ist die Politik wirklich nicht mehr in der Lage, Probleme wie die Flüchtlingskrise in den Griff zu bekommen?

Die Regierungen der EU-Länder spielen seit vielen Jahren immer das gleiche Spiel. Wird ein Problem nicht gelöst, war Brüssel schuld. Wenn es gelöst wurde, war es die nationale Regierung. Jetzt merken viele Regierungen, dass sie viele Herausforderungen eigentlich nur in der Gemeinschaft angehen können. Sie sagen das aber nicht, sondern versuchen sich weiter als Einzelkämpfer und tun so, als könnten die Probleme national gelöst werden. Auf diese Weise haben sie in der Vergangenheit Vertrauen verspielt und sie verspielen es weiter. Das ist der erste Punkt.

Der zweite Punkt ist: Die EU-Länder lernen in diesen Jahren, dass die Globalisierung mit all ihren Folgen nicht vor Europa Halt macht. Leider gibt es aber noch immer zu wenige Politiker, die den Menschen das auch erklären und offen sagen. Ob Umwelt-, Finanz-, Wirtschafts- oder eben Migrationsprobleme – sie kommen auf uns zu oder sind bereits da. Und darauf müssen wir uns einstellen. Den Menschen zu sagen, die Migrationsfragen sind gelöst, wenn wir die Grenzen schließen, heißt nichts anderes, als sie für dumm zu verkaufen. Man kann die Grenzen schließen, aber damit ist die Migrationsfrage ja nicht gelöst.

Meine Erfahrung ist die: Die Leute schätzen es, wenn ihnen offen gesagt wird, dass bestimmte Probleme nicht kurzfristig gelöst werden können, sondern erst über einen längeren Zeitraum Lösungsansätze entwickelt werden müssen. Auch wenn sie vielleicht anderer Meinung sind, erkennen die Menschen an, wenn man ihnen die Wahrheit sagt. Das ist wirkungsvoller, als irgendwelche Scheinkonzepte vorzulegen.

Anders als in Deutschland sind ja in anderen Ländern wie Polen oder Ungarn bereits nationalistische Regierungen an der Macht. Wie wollen Sie die von einer gemeinsamen Lösung überzeugen?

Ich glaube, dass am Ende die pragmatische Vernunft siegen wird. Wer auch immer die Regierung in Warschau führt – große Teile der Wirtschaftskraft Polens werden stark gefördert aus dem Strukturfonds der Europäischen Union. Der Nettobetrag liegt bei 17 Milliarden Euro jährlich. Das ist eine beträchtliche Summe und deshalb hat Polen ein Interesse an einer stabilen und funktionierenden EU.

Würden Sie Sanktionen gegen Polen befürworten?

Die EU prüft derzeit die jüngst verabschiedeten Gesetze der polnischen Regierung. Was sich daraus ergibt, etwa ein Vertragsverletzungsverfahren, wird man sehen. Wir müssen den Regierungen klarmachen, dass der europäische Kompromiss ihnen am Ende mehr hilft als nationale Vorbehalte. Auch frühere Generationen von Politikern haben es geschafft, sich an einen Tisch zu setzen und Kompromisse zu schließen, weil – und das meine ich mit pragmatischer Vernunft – sich dann doch die Erkenntnis durchsetzt, dass wir gemeinsam stärker sind als allein und dass es für alle von Vorteil ist, wenn wir uns unterhaken und die Probleme gemeinsam anpacken.

Kanzlerin Merkel steht momentan in Europa mit ihrer Politik ziemlich alleine da. Was würden Sie ihr raten?

Weitermachen. Wir dürfen nicht aufgeben, unsere europäischen Partner an ihre Verantwortung zu erinnern. Solidarität ist keine Einbahnstraße. Wir haben es hier mit einem globalen Problem zu tun, das wir nur europäisch lösen können. Wenn wir mit finanziellen Anreizen und Überzeugungskraft vorgehen, wird sich etwas bewegen, dessen bin ich mir sicher. Wir müssen natürlich auch die Städte und Gemeinden in Deutschland finanziell in die Lage versetzen, mit der Zuwanderung zurecht zu kommen.Wir müssen die Asylverfahren beschleunigen und konsequent jene rückführen, die keinen Anspruch auf Asyl haben.

Klar ist aber auch: Grenzschließungen lösen das Pro-blem nicht, die Leute werden sich dann andere Wege suchen und weiterhin kommen.