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Erinnerungen Poesiealbum bietet Blick in die Gesellschaft

Poesiealben sind langweilig? Von wegen! Die Büchlein bergen Erinnerungen und zeigen uns Einiges von der Entwicklung der Gesellschaft

Von Cindy Riechau, dpa 29.04.2019, 23:14

Oldenburg/Leipzig (dpa) l Liebevolle Zeichnungen und Lebensweisheiten in filigraner Schrift: Poesiealben sind nicht nur ein Hingucker. „Poesiealben sind Wertesammlungen“, sagt der Soziologe Stefan Walter von der Universität Oldenburg. Er forscht seit zehn Jahren, wie sich Moralvorstellungen bei verschiedenen politischen Systemen in den Büchern widerspiegeln.

„Der Zeitgeist der Nationalsozialisten ist tief in die Alben eingedrungen“, sagt Walter. „In den Jahren 1938 und 1939 ging es da ideologisch ziemlich zur Sache.“ So ist er bei seiner Forschung auf Einträge wie „Du bist nichts, dein Volk alles“ gestoßen. Vor allem unter Männern auf dem Land seien solche Positionen verbreitet gewesen. „Man findet Aufrufe zum Deutschtum und Sprüche von Adolf Hitler“, bestätigt auch Jörg Graf, der seit zehn Jahren Poesiealben sammelt und die Restaurierungswerkstatt der Leipziger Universitätsbibliothek leitet. Ob Frauen oder Männer die Einträge verfasst hätten, macht nach seiner Erkenntnis dabei aber keinen Unterschied.

Bei den Einträgen jüdischer Bürgerinnen und Bürger stellt der Soziologe Walter hingegen fest: „Viele haben ihre Lage als gefährdet und resignativ wahrgenommen.“ Ein Spruch im Album einer jüdischen Schülerin etwa warne, lieber keinem zu trauen, als auf zu viele zu bauen.

Für seine Promotion hat Walter zudem den Wertewandel in Ost- und Westdeutschland zwischen 1949 und 1989 erforscht. In den mehr als 2800 Einträgen aus 84 Alben hat er klare Tendenzen erkannt: „Die DDR hat keinen neuen Menschen erschaffen.“ Stattdessen seien in dem Staat bürgerliche Wertvorstellungen konserviert worden. Die Menschen haben sich klassischen Idealen wie Bildung und Leistungsstreben aus Vorsicht zugewandt. „So macht man sich in repressiven Staaten nicht angreifbar“, resümiert der Wissenschaftler.

In der BRD seien die Poesiealben weniger konservativ, individueller und humorvoller gewesen: „Man kann den Pluralismus geradezu an den Einträgen ablesen.“ Auch die traditionelle Anordnung von Spruch, Ort, Datum und Signatur sei aufgehoben worden. „Die Menschen waren freier und weniger an Normen gebunden“, sagt Walter.

Die Tradition des Poesiealbums geht dem Forscher zufolge zurück auf Studenten, die sich Bibelsprüche und Widmungen von ihren Professoren auf Latein in ihre Stammbücher eintragen ließen. Mitte des 18. Jahrhunderts wurden die Texte auch auf Deutsch verfasst: Weniger gebildete Schichten und Frauen fanden so Zugang zu der Tradition. „Ab dem 19. Jahrhundert haben dann vor allem Mädchen die Sitte weitergetragen“, sagt Walter.

Sammler Jörg Graf kauft die Büchlein meistens auf Trödelmärkten oder im Internet. „Sie sind die letzten Nachweise des einfachen Mannes“, erläutert der Sammler, der 230 Alben besitzt, seine Leidenschaft. „Ein Grab ist irgendwann weg, der Eintrag im Poesiealbum bleibt.“

Poesiealben sind nach den Erkenntnissen des Wissenschaftlers Walter inzwischen nahezu ausgestorben. Einen Grund dafür sieht er in Freundschaftsbüchern, in denen Kinder Steckbriefe ausfüllen und ein Foto einkleben können.

Graf bedauert die Entwicklung, freut sich aber auch über die neuen Trends: „Auch Freundschaftsbücher und Facebook sind Erinnerungskultur.“