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Klinik Der Alltag im Maßregelvollzug

Sie haben mitunter schlimme Verbrechen begangen, doch die Schuldfrage wird anders bewertet: Maßregelvollzug ist mehr Klinik als Knast.

23.12.2019, 11:40

Stuttgart (dpa) l Wolfgang Maier* kann sich noch gut an den Tag erinnern, als sein Leben auseinanderfiel. Er wird im Januar 2015 mit Wahnvorstellungen in die Forensische Klinik in Weissenau am Bodensee eingewiesen. Weil er eine schwere Straftat begangen hat, mehr will er nicht verraten. Erst als er in der Isolierzelle sitzt, beginnt er zu verstehen, was er getan hat. Das sei der schlimmste Tag seines Lebens gewesen, erzählt der 44-Jährige.

Im sogenannten Maßregelvollzug sitzen Menschen, die mitunter schreckliche Verbrechen begangen haben. Vergitterte Fenster, Schleusen und hohe Zäune erinnern ans Gefängnis. Aber hier sitzen Patienten, keine Insassen. Sie sind psychisch krank oder suchtkrank. Bundesweit sind nach Schätzung von Experten rund 12.000 im Maßregelvollzug untergebracht. In Baden-Württemberg sind es rund 1200 Menschen – so viele wie noch nie.

Der Maßregelvollzug rückt meist nur in den Blickpunkt, wenn kranke Straftäter entlaufen. Das öffentliche Bild der forensischen Psychiatrie wird geprägt von Hollywoodfiguren wie Hannibal Lecter. Udo Frank ärgert das. Der Ärztliche Direktor der Klinik in Weissenau regt sich auf, wenn er in Boulevardblättern vom "Psychoknast" liest. Es gebe viele Vorurteile und diffuse Ängste. Udo Frank arbeitet seit mehr als 20 Jahren als Arzt in der Forensischen Psychiatrie. Klar, auch er bekomme Gänsehaut bei manchem Fall, erzählt der 60-Jährige. Aber er sehe immer den Patienten, nicht den Täter.

Wolfgang Maier ist ein Mann wie ein Baumstamm, groß, bullig, schwer. Dennoch wirkt er schüchtern und nervös. Er sitzt in Jeans und blauem Pulli in einem Aufenthaltsraum der Station 73, einer offenen Rehabilitationsstation für psychosekranke Patienten in Weissenau. Einst hatte er ein ganz normales Leben: Versicherungsvertreter, Frau, zwei Kinder. "Wie man sich es wünscht eigentlich", sagt er.

Dann kam die Trennung von der Frau, Belastung im Job. Maier wird krank, rutscht ab in eine schizoaffektive Störung – einer Mischung aus Schizophrenie, Depression und Manie. In seinem Kopf entwickelt er Wahnvorstellungen. "Ich habe mir vorgestellt, dass ich verfolgt werde - und dass der, der mich verfolgt, mich und meine Kinder umbringen will", erzählt er. Die Ängste werden immer realer – bis Maier reagiert. "Ich habe eine sehr schwere Straftat begangen." Seit knapp fünf Jahren sitzt er deshalb in Weissenau.

Die Patienten im Maßregelvollzug sollen nicht bestraft, sondern wieder in die Gesellschaft eingegliedert werden, sagt Chefarzt Frank. Weissenau ist auch optisch viel mehr Klinik als Knast. Auf Station gibt es gemütlich eingerichtete Wohnzimmer mit Topfpflanzen und Brettspielen. Die Krankenhausküche bietet heute Hähnchenschnitzel und Germknödel an. Es gibt Gruppen fürs Wandern, Kochen und Achtsamkeit, Ergo-, Sport, Musik- und Kunsttherapie, Bogenschießen, Schwimmen, Basketball. Wände auf den Stationen werden von Patienten bemalt und gestaltet – die Atmosphäre soll therapiefreundlich sein.

"Das ist hier was ganz anderes als Haft", sagt Chefarzt Frank. "Die Menschen sind krank und denen steht eine Behandlung zu." Deshalb haben sie auch mehr Rechte als Gefangene. Der gesetzliche Auftrag lautet "Besserung und Sicherung" – und zwar in dieser Reihenfolge. In kleinen, vorsichtigen Schritten wird der Vollzug gelockert. Erst dürfen sie raus in den umzäunten Garten, dann mit Klinikpersonal auf das ganze Gelände, bis sie irgendwann durch Ravensburg laufen dürfen.

Wolfgang Maier ist seit zweieinhalb Jahren in einer offenen Station untergebracht, auf Lockerungsstufe 8 "mit Stern", darf sich 25 Kilometer rund um die Klinik frei bewegen. Nur zwischen 20.45 bis 6.45 Uhr muss er da sein. 23 Stunden die Woche arbeitet Maier im Bistro der Klinik, schmiert Brötchen und backt Kuchen. Ihn plagen Schuldgefühle. "Weil es mir relativ gut geht hier – für das was ich gemacht habe", sagt er. "Ich habe immer wieder das Gefühl, ich müsste eigentlich im Gefängnis sitzen." In Weissenau muss er sich nur in ein kleines Buch am Eingang eintragen, dann darf er rausspazieren.

Immer wieder sorgen Fluchten und sogenannte Entweichungen für Schlagzeilen. Dabei komme es aber selten zu schlimmeren Verstößen als Schwarzfahren, berichtet Frank. Die Rückfallquote der psychisch Kranken im Maßregelvollzug sei gering. Aber die Arbeit mit den Patienten wird schwieriger. Die Belegung in den Kliniken nimmt seit Jahren zu. Die Zahl der Untergebrachten in Baden-Württemberg ist nach Angaben des Sozialministeriums von 2000 bis 2018 um 58 Prozent gestiegen. Betten und Personal sind Mangelware. "Das hat zu massivem Druck in den Kliniken geführt", sagt Chefarzt Frank.

Jürgen Müller spricht von einem bundesweiten Ansturm auf geschlossene Abteilungen. Er ist Professor für Forensische Psychiatrie in Göttingen und zuständig für diesen Bereich in der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN). "Inzwischen sind Patienten schwerer gestört und vielleicht auch gefährlicher als früher", sagt er. Die Unterbringungsdauer nehme seit Jahren zu. Zudem gebe es immer mehr bürokratische Hürden, die die Behandlung verzögerten. Jeder dritte psychisch Kranke sitze länger als zehn Jahre im Maßregelvollzug.

In Weissenau sind 145 Patienten untergebracht – bei 107 Planbetten. In den vergangenen Monaten wurden zusätzliche Betten in Räume und Flure geschoben. Ein altes Gebäude, das eigentlich abgerissen werden sollte, wurde gestrichen und beherbergt seit Juli eine neue Station.

Mit der Belegung wachsen auch die Konflikte. Die Zahl der Übergriffe habe sich im Sommer aufgrund der akuten Überbelegung verdreifacht. Wegen des Platzmangels müssen Patienten häufiger innerhalb der Klinik verlegt werden. "Wir müssen aufnahmedruckgetrieben die Leute schneller durchschieben", sagt Chefarzt Frank. Dadurch bekomme man Warnsignale schlechter mit. Die Lage sei weiter angespannt.

Wolfgang Maier hat die Überbelegung am eigenen Leib gespürt. Für ein Jahr wird er ausquartiert in ein anderes Gebäude, lebt in einer Art WG ohne Klinikpersonal, pendelt für Therapie und Essen zwischen Häusern hin und her. Zehn Tage schläft er sogar mit anderen Patienten in einem Matratzenlager in einem Veranstaltungssaal.

Morgen muss Maier wieder umziehen – in eine Wohngemeinschaft im Großraum Stuttgart. Seine Probe-Beurlaubung beginnt, eine Art Bewährungsphase von sechs Monaten. Wirklich frei ist er aber noch nicht. Er muss seine Medikamente nehmen, einer Arbeit nachgehen, sich regelmäßig bei seiner Station melden, einen Psychiater aufsuchen, Alkohol und Drogen sind tabu. "Er muss jetzt ganz viele Spielregeln beachten. Wenn er gegen die verstößt, ist er schneller wieder hier, als er sich umdrehen kann", sagt Frank.

Wolfgang Maier freut sich auf ein geregeltes Leben. Er habe lange gebraucht, um zu akzeptieren, dass er krank ist, sagt er. Wenn er seine Pillen nicht mehr nimmt, können die Wahnvorstellungen wiederkehren. Er glaubt daran, dass er sich im Griff hat. "Ich betrachte mich wie einen trockenen Alkoholiker, der auch nie geheilt wird."

Die Patienten müssten die Erkenntnis gewinnen, dass sie ein Leben lang krank bleiben, meint Chefarzt Frank. Bei Wolfgang Maier macht er sich aber sich keine Sorgen. Zum Abschied gibt er seinem Patienten die Hand und sagt: "Ich hoffe, dass wir uns beruflich nicht mehr sehen."