Töchter

Manchmal ist die Beziehung zwischen Eltern und Kindern völlig zerstört. Stoff für einen Arte-Film.

Von Klaus Braeuer, dpa 02.12.2015, 23:01

Berlin (dpa) - Eine Mutter ist auf der Suche nach ihrer verschwundenen Tochter und fährt deshalb von der hessischen Provinz nach Berlin. Wie dabei alles passiert, das zeigt der Film Töchter, der am Donnerstag um 21.45 Uhr auf Arte zu sehen ist.

Agnes (Corinna Kirchhoff) ist Deutschlehrerin, eine Frau in den Fünfzigern, blond und etwas verhärmt aussehend. Kein Wunder, denn ihre Tochter Lydia ist schon vor einigen Jahren von zu Hause verschwunden. In Berlin wird nun ihr Studentenausweis gefunden, bei einem toten Mädchen - das aber zum Glück nicht Lydia ist.

Agnes wendet sich an die Polizei, die ihr rät, wieder nach Hause zu fahren - vielleicht kommt sie ja zurück. Doch Agnes macht sich selbst auf die Suche in der Hauptstadt. Sie mietet sich einen Wagen (mit dessen Automatikschaltung sie nicht klarkommt), sie nimmt sich ein Hotelzimmer (in dem sie nicht schlafen kann) und sie fährt ziellos durch die Stadt (in der sie sich überhaupt nicht zurechtfindet).

Dann trinkt sie eines Abends etwas zu viel und hat einen Unfall - eine junge Frau läuft ihr ins Auto. Der Frau ist zum Glück nichts passiert - es ist Ines (Kathleen Morgeneyer), die mal Medizin studiert hat und jetzt obdachlos ist. Die beiden einsamen Frauen heften und klammern sich sofort förmlich aneinander. Sie fahren durch die Nacht, hören im Auto klassische Musik, zitieren Heinrich Heine (Ich hab' im Traum geweinet) und trinken Wein aus der Flasche, quatschen und streiten sich. Im Hotelzimmer kommt es sogar zu Zärtlichkeiten und Handgreiflichkeiten. Später findet Agnes heraus, dass Ines (die im selben Alter sein müsste wie Lydia jetzt) sich schon öfter vor einen Wagen geworfen hat, um daraufhin gerettet zu werden.

Regisseurin Maria Speth (48, 9 Leben, Anonym) sagt in einem Statement des Senders über ihren Film: Der erste Ort der Beschädigung ist die Familie. Die Familie ist diese Gesellschaft in ihrer kleinsten Organisationsform. Alles, was das Leben der Gesellschaft bestimmt, bestimmt auch das der Familie und umgekehrt. Aber die Beziehungen in Familien sind nicht nach öffentlichem Gesetz und Ordnung geregelt. Deshalb sind die Verhältnisse liebevoller oder brutaler und rücksichtsloser.

Agnes und Ines, die beiden Hauptfiguren, würden ihre familiären Verletzungen mit sich tragen, als sie sich begegnen, erläutert Speth. Als Mutter und als Tochter. Mit der Chance, sich in diesen Rollen anders zu erfahren. Oder sich zu wiederholen. Zu sehen sind also zwei zutiefst verzweifelte und völlig vereinsamte Frauen, denen diese Verlorenheit förmlich auf der Stirn geschrieben steht.

Corinna Kirchhoff (57, Blütenträume, ARD) spielt die verlassene Mutter, die unfassbar müde und etwas ruppig zugleich wirkt, mit großer Intensität - ohne sie wäre dieser Film in seiner nachtgrauen Kälte kaum zu ertragen. Kathleen Morgeneyer (38, Blochin, ZDF) als Tochter, die ihre Mutter verlassen hat, gibt ihrer Ines eine Mischung aus Verletzlichkeit und dem Drang zur Selbstzerstörung.

In kleinen Gastauftritten sind Hermann Beyer (als Kommissar), Hans Jochen Wagner (als Autovermieter) und Lars Mikkelsen (als Bildhauer) dabei. Zu sehen sind viele graue Bilder einer grauen Stadt: Menschen mit leerem Blick, verdreckte Straßen, verlassene Spielplätze, ein herumstreunender Fuchs. Maria Speth hat ein kühles Kammerspiel inszeniert, dass es dem Zuschauer schon ziemlich schwer macht: Jegliche Emotionen sind auf Eis gelegt, die Bildsprache (Kamera: Reinhold Vorschneider) ist recht künstlich, die Dialoge spärlich und sachlich.

So bleibt stets eine seltsame Distanz, eine Identifikation mit einer der Hauptfiguren ist kaum möglich, man quält sich regelrecht durch diesen wirklich sehr ambitionierten Film. Eine Entwicklung der Figuren ist nicht wahrnehmbar, deren Handeln bleibt seltsam ungreifbar - auch mangels einer Vorgeschichte von Agnes und Ines. Natürlich ist das Ende ähnlich trostlos wie der ganze Film.

Klar ist, dass es um gestörte Familienstrukturen und -prozesse geht. Dass wir in einer zunehmend kälteren Welt leben, wird ohnehin jeden Tag deutlicher. Viele Menschen stecken voller Ängste und Zweifel und entfernen sich voneinander, auch und gerade Kinder und Eltern. Keine Wärme mehr, nirgends. Um das zu begreifen, muss man sich einen solchen Film wie diesen - erst recht zu nachtschlafender Zeit - sicher nicht anschauen.