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Alice im Wunderland Weltliterarischer Nonsens

Im Wunderland ist auf nichts Verlass: Was Lewis Carroll die kleine Alice erleben lässt, fasziniert heute wie vor 150 Jahren.

20.11.2015, 23:01

Oxford (dpa) l Ein Sommertag im englischen Oxford. Charles Dodgson, Matheprofessor am berühmten College Christ Church, geht auf der Themse rudern. Er hat die drei Töchter des Dekans der Uni mit dabei. Die mittlere, Alice Liddell, ist zehn Jahre alt. Im Boot beginnt Dodgson zu erzählen: vom Mädchen Alice, das einem weißen Kaninchen hinterherläuft und die verrücktesten Abenteuer erlebt. Es ist der 4. Juli 1862, der Geburtstag von „Alice im Wunderland“. Gut drei Jahre später, vor 150 Jahren, wird der Roman unter dem Autoren-Pseudonym Lewis Carroll veröffentlicht.

Zum genauen Datum gibt es unterschiedliche Angaben, der 26. November wird oft genannt, die British Library beschränkt sich auf die Angabe „November 1865“. Wie auch immer: Mit Alice hat Dodgson (1832-1898), der seine Geschichte zunächst „Märchen von Alices Abenteuern unter Tage“ nannte, eine Figur der Weltliteratur geschaffen.

Das weiße Kaninchen als Führer in eine Parallelwelt ist längst Teil der Popkultur. Das Buch ist Schullektüre, in mehr als 170 Sprachen übersetzt, sogar auf Latein und Esperanto erschienen und zigfach verfilmt. „Unter den ersten eifrigen Lesern waren Queen Victoria und der junge Oscar Wilde“, informiert der Originalverlag Pan Macmillan, damals nur Macmillan.

Wer 150 Jahre nach dem Erscheinen nach Oxford kommt, begegnet Alice und ihren Gefährten auf Schritt und Tritt: Gegenüber von Christ Church verkauft „Alice‘s Shop“ alles vom Küchenhandtuch bis zum Regenschirm mit Wunderland-Motiven, ein Bier kann man im Pub „The Mad Hatter“ trinken, benannt nach dem verrückten Hutmacher.

Ein Fenster des Speisesaals in Christ Church, in dessen Nachbau Zauberlehrling Harry Potter in den Filmen sitzt, zeigt den Hutmacher, den Märzhasen, die Rote Königin, den Dodo, natürlich Alice – die Romanfigur, aber auch das Vorbild Alice Liddell – und den Autor. Die Kaminböcke vor den Feuerstellen haben seltsam lange Hälse und dürften eine Inspiration für den Giraffenhals gewesen sein, der Alice wächst, nachdem sie vom Kuchen mit der Aufschrift „Iss mich“ abbeißt.

„Alice ist sehr wichtig für den Tourismus hier", sagt Alasdair de Voil. Er muss es wissen: Verkleidet als verrückter Hutmacher organisiert er Teegesellschaften, Kindergeburtstage und Stadtführungen. Er zeigt Touristen, wo Dodgson und die Mädchen entlang gerudert sind, und kennt Details, etwa, dass das Wetter an diesem 4. Juli nicht besonders schön war.

Nicht nur Familien melden sich zu Alasdairs Touren an. „Es gibt viele Erwachsene, die richtige Fans und Experten sind“, sagte er. Kein Wunder, schließlich stehen in diesem Buch so schöne Sätze wie „All das Gerede von Blut und Erschlagen verdirbt mir den Appetit auf Tee“.

Was macht „Alice im Wunderland“ so besonders? Für Kim Reynolds, Professorin für Kinderliteratur an der Universität Newcastle, sind es auch die entlarvenden Beobachtungen des Mädchens. „Sie stellt Fragen, die oft bloßlegen, dass das Verhalten der Erwachsenen irrational, widersprüchlich und ungerecht ist; vor allem, wenn es um die Ausübung von Macht und Autorität geht.“

Viel wurde und wird in Fachkreisen spekuliert über das Verhältnis des Professors zur kleinen Alice. Theorien reichen von einer pädophilen Neigung bis dahin, dass Dodgson sich über die Mädchen an die Kinderfrau der Liddells heranmachen wollte oder einfach ein Sonderling war, der die Gesellschaft von Kindern bevorzugte. Auf das Manuskript des Romans, das er Alice Liddell noch vor der Veröffentlichung schenkte, schrieb Dodgson: „Ein Weihnachtsgeschenk für ein liebes Kind, in Erinnerung an einen Sommertag.“