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Ballett Düstere Halbwelt am Theater Magdeburg

Ein Ballettauftakt der neuen Spielzeit am Magdeburger Theater, wie man sich ihn spektakulärer wohl kaum vorstellen kann: "America Noir".

Von Rolf-Dietmar Schmidt 01.10.2017, 23:01

Magdeburg l Ein Pas de deux mit einer toten Frau - das ist das erste Bild des Handlungsballetts von Gonzalo Galguera, das sich sehr schnell zu einem Thriller entwickelt, angelehnt an die amerikanischen Filmkrimis der 1940er und 1950er Jahre, dem Film noir. Schon dieser atemberaubende Beginn, bei dem der russische Tänzer Andreas Loos als vermeintlicher Mörder verhört und gefoltert wird, macht deutlich - dieses Ballett setzt im Ausdruckstanz neue Maßstäbe.

Die Tänzer sind stark darstellerisch gefordert, obwohl sie gleichzeitig mit Höchstleistungen bei fast artistischen Bewegungsabläufen und anmutigen Szenen glänzen. Diese Kombination, die nur bei exzellenter klassischer Ausbildung möglich ist, schafft eine Erzählform, die ohne ein Wort zu sprechen, Hochspannung und gleichzeitig sehr tiefe Gefühlseinblicke ermöglicht.

Dem Mann in diesem Krimistück gelingt die Flucht, und er macht sich auf den Weg über verschiedene Stationen im Amerika der Zeit des Film noir, immer auf der Suche nach Halt und Geborgenheit, nach Liebe. Doch die Sehnsucht bleibt ohne Erfüllung.

Die drei Frauen, denen Andreas Loos auf diesem Weg in verschiedenen Rollen begegnet, sind Primaballerina Lou Beyne, Antanina Maksimovich und Narissa Course. Diese drei außergewöhnlichen Tänzerinnen sind vom Typ her auf die unterschiedlichen Szenen abgestimmt.

Nach dem ersten Bild „Tod“ folgt „Schein“. Hier präsentiert sich Antanina Maksimovich außerordentlich eindrucksvoll als der Filmstar, der nach einer Premiere mit dem Mann auf der Flucht, dem Außenseiter, dem Fremden, eine Affäre beginnt, dann aber doch die Sicherheit des Establishments vorzieht. Dabei, wie auch in den anderen Bildern, werden die Protagonisten in höchst ausdrucksvollen Gruppentänzen von den Mitgliedern der Compagnie immer wieder beinahe nahtlos zu ihren Einzelauftritten in Szene gesetzt. Eine wichtige Rolle spielen dabei Musik, Ausstattung und Kostüme.

Die Musikauswahl greift auf die Kompositionen großer Namen zurück. Im ersten Bild „Tod“ ist es das Stück „Tambor“ von Joan Tower, bei „Schein“ ist es die „Afro-American Symphony“ von William Grant Still. „Einsamkeit“, „Treiben“ und „Wahn“ sind die folgenden Bilder, in denen die Musik von Aaron Copland, Samuel Barber, John Adams und Philip Glass erklingt. Am Pult der Magdeburgischen Philharmonie gab dabei die russische Gastdirigentin Anna Skryleva ihr Debüt in Magdeburg. Sie hatte genau das richtige Gefühl für die Ausgewogenheit, musikalisch die Handlung temperamentvoll und kräftig zu treiben, bei den Augenblicken der großen Gefühle aber auch die entsprechende Zurückhaltung zu finden.

Ein ebenso glückliches Händchen bewies Christiane Hercher bei der Bühnengestaltung. Im Schauspiel und in der Oper mit ihren Ausstattungen schon lange bewährt, war für sie eine solches Handlungsballett eine besondere Herausforderung. Mit jeweils einem neuen Bühnenbild für jedes der Teile schuf sie den idealen Rahmen für ein Ballett à la Film noir.

Zu den anrührendsten Momenten dabei wurde das Pas de deux mit Andreas Loos und Narissa Course in dem Bild des einsamen Treffens am Motel 66. Dieser Tanz, für den eigens ein amerikanischer Straßenkreuzer der 1950er Jahre auf die Bühne rollte, war Krimi und Liebesdrama in einem. Mit eindrucksvollen Tanzbildern des Suchens und Findens, der Flucht vor den Verfolgern, Versteck im Kofferraum, der Hoffnung und Enttäuschung, wurden die Gefühle der beiden fast körperlich spürbar auf eine aussichtslose Probe gestellt. Das war ein klassischer Paartanz, und dennoch ganz modern und neu im Ausdruck.

Auch in der Großstadt mit ihrer hektischen Geschäftigkeit findet der Mann auf der Flucht nicht die Erfüllung in der Liebe. Hier geht es kühl und rational zu, wozu dann auch nahtlos das Bild „Wahn“, passt, in dem die Menschen wie Roboter, oder Roboter wie Menschen agieren.

Es ist beeindruckend, wie Christiane Hercher hier die tänzerische Choreografie der Maschinenmenschen mit der auf der Videoleinwand koordiniert. Es entsteht genau das Gefühl, als ein Rädchen im Getriebe des Geschehens hilflos zu funktionieren. Und doch: Selbst die Robotertänzer besitzen in ihrer Funktionalität noch Anmut.

Hier findet der Mann, ausgestoßen und unverstanden, die tote Frau wieder, mit der seine Fluchtreise begann. Der Kreis schließt sich. „Wahn“, so das Bild, oder Realität?

„America Noir“ ist ein Handlungsballett, das Ballettfreunde begeistert, aber ebenso Menschen anziehen wird, denen dieses Genre eher fremd ist. Wer sich auf dieses Stück einlässt, wird vermutlich künftig nicht mehr vom Ballett lassen können.