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Ballett Wo die Seelen verkümmern

Auge und Ohr kamen mit der Uraufführung der „Gefährlichen Liebschaften“ von Ballettchef Can Arslan in Halberstadt voll auf ihre Kosten.

Von Hans Walter 19.02.2017, 23:01

Halberstadt l Zwölf Jahre fast auf den Tag genau nach dem legendären Jurasz-Ballett „Gefährliche Liebschaften“ nach dem gleichnamigen Briefroman von Pierre-Ambroise-François Choderlos de Laclos von 1782 gab es nun in der Domstadt eine Neuauflage. Aber völlig anders.

2005 hatte der inzwischen verstorbene Ballettmeister Jaroslav Jurasz für seine zweistündige Schöpfung Musik von Couperin, Lully, Rameau und anderen französischen Barockmeistern genutzt. Live gespielt vom Orchester des Nordharzer Städtebundtheaters.

Can Arslan ging andere Wege und vergab einen Kompositionsauftrag an den Spanier Gonzalo Alonso. Dessen Musik ist liedhaft, motorisch, bohrend, erzählerisch kommentierend – nahe dran an der Entstehungszeit der 175 Briefe des skandalösen Laclos-Romans. Gespielt wird sie von drei Musikern in Rokoko-Kostümen – von Hyung Ju Lee (Leitung und Klavier), Diego Romano (Violine) und Masako Yoshida (Cello). Die kammermusikalische Ausprägung tut der Intimität der „Gefährlichen Liebschaften“ wohl.

Die abgrundtief boshafte Marquise de Merteuil (die bildschöne Koloratursopranistin Runette Botha) und ihr Ex-Lover Vicomte de Valmont (der hochgewachsene Tänzer Vinicius Augusto Menezes da Silva) schmieden ein Gespinst aus Lügen und Liebe. Er soll das unschuldige Mädchen Cécile de Volanges (Shainez Atigui) noch vor der Hochzeit verführen und damit unmöglich machen. Das Ziel ist rasch erreicht. Doch Schürzenjäger Valmont hat schon längst ein neues Objekt der Begierde im Blick: die tief gläubige Madame de Tourvel (Masami Fukushima). Briefe wechseln hin und her und verschärfen den Konflikt, verkörpert durch die Tänzerin Anna Vila. Ein tödliches Drama nimmt seinen Lauf. Es kommt zum Showdown zwischen Valmont und dem Chevalier Danceny (Alexandre Delamare). Valmont bleibt auf der Strecke und wird vom Tod (Jaume Bonnin) ereilt.

Für den der Romanhandlung nicht kundigen Zuschauer geben die Kostüme der Ausstatterin Andrea Kaempf wichtige Fingerzeige: Sie sind barock in unterschiedlicher Farbigkeit. Die Handlungsorte sind reduziert auf die wichtigsten Accessoires. Hinter Schleiern und Vorhängen wabert heimtückisch im Zwielicht das Geheimnis. Der Tod tritt als schwarzer Vogel auf. Es sind theatralische Bilder von außerordentlichem, ästhetischem Reiz, von Arslan und Kaempf erschaffen. Dazu tritt der betörend schöne Gesang von Runette Botha mit Koloraturarien von Vivaldi, Händel und Gounod. Sollte eine Frau, die derart singen kann, so abgrundtief böse sein?

Mit seiner Inszenierung schafft Can Arslan einen bewegend-verstörenden Einblick in die Gedankenwelt seiner Protagonisten mit den Körpern seiner Tänzer. Nach dem Weggang zweier italienischer Tänzer im Dezember musste er kurzfristig das auf sechs Protagonisten geschrumpfte Ensemble wieder aufstocken – mit Sonja Jahnke und Caterina Cerolini als Kurtisanen.

Auf jeden Fall macht er sehr überzeugend in fantastischen Bildern deutlich: Hier werden Menschen zerstört. Ihre Seelen verkümmern. Keiner, nicht ein einziger, wird glücklich. 75 Minuten reichen dem Choreogra­phen aus, ein Sittenbild aus dem vorrevolutionären Frankreich zu zeichnen. Ein unglaublich dichtes Geschehen!

Zur Uraufführung waren auffallend viele junge Leute gekommen. Die Frage nach Liebesglück in heutiger Zeit, den Wegen dahin und den Störgrößen scheint wichtiger denn je. Begeisterter Applaus und viele „Bravo“-Rufe für das gesamte Ensemble – speziell für den Komponisten Gonzalo Alonso.

Weitere Vorstellungen in Halberstadt am 10. und 26. März, am 9. und 29. April.