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Historischer Roman Als der Müll zum Himmel stank: "Ein englischer Winter"

Ein Roman über den historischen Streikwinter in England, den Aufstieg Margaret Thatchers und was das alles mit uns heute zu tun hat.

Von Sibylle Peine, dpa 10.03.2021, 08:43
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- piper.de

Berlin (dpa) - Die Boulevardzeitung "Sun" bediente sich bei William Shakespeares "Richard III." und sprach verbittert von einem "Winter des Missvergnügens". Tatsächlich schien Großbritannien im Winter 1978/79 vor einem Abgrund zu stehen.

Wochenlange Streiks paralysierten das Land. Es begann mit einem Arbeitsstopp bei Ford, dann streikten die Transportarbeiter, überall auf den Straßen blieb der Müll liegen und es stank zum Himmel, schließlich verweigerten sogar die Totengräber noch ihren Dienst. Das monatelange Chaos spülte die Labour-Regierung hinweg und bewirkte den Aufstieg Margaret Thatchers. Am Ende jenes Winters des Missvergnügens begann eine neue Epoche des Marktliberalismus.

Thomas Reverdy thematisiert in seinem aktuellen Roman "Ein englischer Winter" genau diese Epochenwende. Der Franzose fühlt sich seit jeher angezogen von morbiden Szenarien. In "Es war einmal eine Stadt" erzählte er vor ein paar Jahren vom düsteren Niedergang der einst so ruhmreichen Autometropole Detroit. In "Die Verflüchtigten" ging es um die sozialen Kollateralschäden des Supergaus von Fukushima. Nun also gräbt er ein 40 Jahre zurückliegendes Ereignis aus, das wie ein trauriger Abgesang auf die einstige Weltmacht Großbritannien wirkt und aktuelle Vergleiche mit einem im Strudel von Corona und Brexit gefangenen Vereinigten Königreich geradezu herausfordert.

Im Mittelpunkt steht die Schauspielschülerin Candice, die zusammen mit anderen Frauen, den "Shakespearettes", das Drama "Richard III." probt. Um ihren Lebensunterhalt zu finanzieren, ist die 20-Jährige als Fahrradkurierin in den Straßen Londons unterwegs und wird so Augenzeugin des Tag für Tag weiter anschwellenden Chaos. Auch die Menschen in ihrem Umfeld werden von der Krise gebeutelt: Candices Vater ist arbeitslos und es besteht wenig Aussicht, dass er je wieder einen Job ergattert. Ein befreundeter Jazzpianist will das Land verlassen, nachdem er seinen juristischen Kampf gegen einen Großkonzern verloren hat und er sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser halten muss. Anfang Januar erstarrt das Land dann in einem Generalstreik. Vergebens beschwört Candice ihre Schauspieltruppe, sich daran zu beteiligen.

Der Roman hat eine stark rhythmische Gliederung. Immer wieder zitiert er ganze Passagen aus "Richard III.", wobei der königliche Unhold als abschreckendes Beispiel für Willkür und Machtmissbrauch herhalten muss. Die 34 Kapitel beginnen jeweils mit kurzen Zitaten zeitgenössischer Songs, etwa von den Sex Pistols, von Joy Division, The Clash oder Pink Floyd. Es gelingt dem Autor recht gut, die Atmosphäre jener Zeit einzufangen, in der der Punk aufkam und schrille Typen mit Sicherheitsnadeln groß machte, Musiker, "die das Chaos lieben, zerrissene T-Shirts und Unordnung".

Eher anekdotisch wirken dagegen die Auftritte der eisernen Lady mit der Betonfrisur, die an der Schauspielakademie versucht, ihren "fetten Akzent" einer nordenglischen Krämerstochter loszuwerden und die so hässliche Sätze sagt wie: "Die Gesellschaft gibt es nicht. Es gibt nur Menschen, und Menschen kümmern sich in erster Linie um sich selbst." Die Botschaft ist klar: Hier beginnt etwas Neues, das für viele Menschen einmal sehr unerfreuliche Folgen haben wird - erst kommen die Privatisierungen und dann die Massenentlassungen. Aber das ahnen ihre Wähler damals noch nicht.

Das Zeitkolorit ist zweifellos gelungen. Doch die eigentliche Erzählung fällt dagegen ab, hat keinen richtigen Plot und trägt so nicht bis zum Schluss. Dieser Mangel wird durch den ungewöhnlichen Aufbau des Textes nur mühsam kaschiert.

Thomas Reverdy: Ein englischer Winter, Berlin Verlag, Berlin/München, 208 Seiten, 22,00 Euro, ISBN 978-3-8270-1409-2

© dpa-infocom, dpa:210309-99-746127/2

Ein englischer Winter