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Debüt Freundin als Rettung - Debütroman über das Aufwachsen heute

Tinder, Schopenhauer und ein Pony: Lisa Krusche bringt in ihrem ersten Roman über den Alltag von Jugendlichen allerhand zusammen. Die junge Autorin wurde 2020 bereits ausgezeichnet.

Von Christina Sticht, dpa 30.04.2021, 07:20
Lisa Krusche, Schriftstellerin, aufgenommen am Rande eines Interviews der Deutschen Presse-Agentur.
Lisa Krusche, Schriftstellerin, aufgenommen am Rande eines Interviews der Deutschen Presse-Agentur. Julian Stratenschulte/dpa

Braunschweig

Materieller Reichtum, aber innere Leere. Eine nie endende Flut von Bildern und Videos auf dem Smartphone. Plastik in den Ozeanen und immer heißere, trockenere Sommer: Wie fühlt sich die Gegenwart an?

Dieser Frage geht Lisa Krusche in ihrem Debütroman „Unsere anarchistischen Herzen“ nach, der jetzt bei S. Fischer erschienen ist. Auf 448 Seiten zieht die 30-jährige Autorin die Leserinnen und Leser in die Welt von zwei jungen Frauen hinein.

Charles musste gegen ihren Willen mit ihren Künstler-Eltern aus Berlin in eine Art Hippie-Kommune in die Provinz ziehen. Gwen verabredet sich per App zu Schlägereien und über Tinder mit Männern, die sie bestiehlt, um das Geld zu spenden. Schauplatz ist Hildesheim, wo auch Krusche geboren ist. Die Mädchen treffen sich zufällig an einem Kiosk, der für sie zum Fluchtpunkt vor familiären Problemen wird. Denn Gwens Zuhause ist die Hölle, ihren kalten Eltern geht es nur um eine perfekte Fassade. Sie scrollt sich am Handy durch Videos mit Nacktkatzen und Entenküken, die in einen Gulli fallen. „Ich will mich abtrennen von der Welt“, sagt sie einmal.

Ist das Aufwachsen heute schwieriger als früher, die Jugend fragiler? „Ich will gar nicht für eine ganze Generation sprechen“, sagt Lisa Krusche, die als Schülerin noch nicht 24 Stunden lang Internet zur Verfügung hatte - anders als ihre sieben Jahre jüngere Schwester und ihr 16-jähriger Bruder. Bewegungen wie Fridays for Future seien ein Zeichen dafür, dass es bei jungen Menschen ein Bewusstsein für die Bedrohung gibt, meint die Autorin bei einem Treffen in der Nähe der Hochschule für Bildende Künste (HBK) Braunschweig, wo sie Kunstwissenschaften studiert hat.

„Sommertage ziehen dahin und fühlen sich an wie dehnbarer Schleim“, heißt es im Roman. „Wenn es zu heiß wird auf der Welt, schmilzt nicht nur die Arktis, es schmelzen auch die Telefone, und dann können wir einander nicht mehr mal Sharepics über den verheerenden Zustand der Welt schicken.“

Im Juni hat Krusche beim renommierten Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt den Deutschlandfunk-Preis gewonnen. In ihrem Text ging es um eine Frau, die davon träumt, mit Wassertieren zu verschmelzen. „Ich liebe Donna Haraway“, sagt die 30-Jährige. Die feministische Literaturwissenschaftlerin und Biologin Haraway hat eine utopische Science-Fiction-Theorie zu symbiontischen Paarungen von Tieren und Menschen entwickelt. In Krusches Roman gibt es das Pony Gerd, einen Stoff-Oktopus und eine Zimmer-Palme als Vertraute, einen adoptierten Hund und einen Wald mit einer imaginären Riesin als Rückzugsort.

„Unsere anarchistischen Herzen“ wird abwechselnd aus der Sicht von Charles und Gwen in der Ich-Form erzählt. Es finden sich Reflexionen, Chats, Dialoge und poetische Passagen, die als eigenständige Gedichte stehen könnten. Manches ist dick aufgetragen, sie hat keine Scheu vor kitschigen Bildern. Übersetzte Songtexte seien auch dabei, erzählt Krusche. „Eins zu eins eine Realität abzubilden, das interessiert mich nicht. Es geht mir um eine Spracharbeit, eine gewisse Künstlichkeit.“

Den Einfallsreichtum und die poetische Sprache lobt der Schriftsteller Clemens J. Setz auf der Rückseite des Buchumschlags. Dies zeige, wie „steinalt und roboterhaft“ er selbst und die meisten anderen Dichter deutscher Sprache inzwischen geworden seien. Zum Release des Romans gibt es zwei Musik-Videos, die auf Youtube veröffentlicht wurden.

Die Leere, Einsamkeit und Selbstzerstörung der Figuren lassen sich nachempfinden, auch Glücksmomente, Befreiung und Rausch. Mit 16, 17 Jahren fühlt sich vieles intensiver an als später. Ziemlich klischeehaft gezeichnet werden allerdings Gwens Eltern, Charles' psychisch kranker Künstler-Papa, der ihr als Kleinkind Schopenhauer vorlas, oder auch andere Mitglieder der Hippie-Kommune.

Der Roman feiert die Beziehung der beiden jungen Frauen, die ihnen ermöglicht, sich aus ihren Familien zu befreien. „Freund*innenschaft“ sieht Lisa Krusche als einen Ort der Liebe. Dazu zählen Fürsorge, Respekt und Kooperationsbereitschaft, wie sie sagt.