Berauschendes Narkotikum Gläubig in den Untergang: "Hitlerjunge Schall"
Die Tagebücher eines Hitlerjungen sind ein einzigartiges Dokument der Verblendung einer ganzen Generation. Der Glaube an Hitler wird für diese Jugend zum Akt der Rebellion.
Berlin (dpa) - Der 12. April 1931 ist für den Hitlerjungen Schall ein großer Tag. Zum ersten Mal darf er sein Idol, den "Führer", ganz aus der Nähe sehen. Auf einer SA-Kundgebung in Weimar fährt Adolf Hitler direkt im Wagen an ihm vorbei.
"Die Arme fliegen hoch. Die Augen rechts! Die Musik schmettert. Dort steht Hitler auf dem Auto, mit erhobener Hand, jede Gruppe sieht er mit seinen unbeschreiblichen Augen an, jetzt kommen wir...." Die alte Musenstadt im Rausch des Nationalsozialismus wird für den 18-Jährigen zu einem "Erlebnis".
Diese Tagebücher sind ein seltenes historisches Dokument, zeigen sie doch ganz unmittelbar die Faszination und Verblendung einer Generation, die in den Nationalsozialismus hineinwuchs und sich dem Führerkult mit Haut und Haaren verschrieb. Franz Albrecht Schall (1913-2001), Sohn eines Lehrers aus Altenburg, beginnt sein Tagebuch mit 16 Jahren, als er noch Mitglied beim Bund Deutscher Neupfadfinder ist. Doch bald ist ihm dieser Verein nicht mehr politisch und national genug und er wechselt zur Hitlerjugend.
Begeistert baut er die HJ Altenburg mit auf. Heimabende, Fackelzüge, Führertagungen und immer wieder Aufmärsche - dieser wirbelnde Kreislauf an Aktivitäten ist nun Schalls Leben, das er fein säuberlich in seinen Aufzeichnungen dokumentiert.
Mit diesem "Eventkult", dieser bombastischen Inszenierung und Theatralik appellierte der Nationalsozialismus an die Gefühle und Sehnsüchte der Jugendlichen: "Die nationalsozialistische "Weltanschauung"", kommentiert der Dresdner Historiker André Postert, "ist hier nicht zuerst ideologische Peitsche, sondern eher ein berauschendes Narkotikum, das, einmal eingenommen, gleich Sinn, Macht und Größe versprach - ein erhebendes Gefühl, bedeutend zu sein und an großen Dingen mitzuwirken."
Das erinnert den heutigen Leser fatal an die Faszination, die der IS auf viele Jugendliche ausübt. Auch er spricht mit starken Bildern und Symbolen die Gefühle von Jugendlichen an, lädt ihr Leben mit Bedeutung auf. Der Kult um den Nationalsozialismus wird bei Schall zum Akt der Rebellion - gegen die Eltern, gegen die Demokratie, gegen die "morsche, zerfallende Welt." Nur der NS-Jugend gehört die Zukunft, wie Schall berauscht schreibt: "Die Jugend ohne Ziel, die Welt verbaut, doch Deutschland wartet und ruft seine Söhne - hier ist deine Heimat, hier ist dein Ziel. Deutschland, Deutschland, nichts als Deutschland."
Schall beginnt in Dresden eine Ausbildung als Tischler, doch die Qualität seiner Arbeit leidet unter seinen Tagträumen: "Muss eben im Betrieb so viel an Deutschland denken, weiß wohl, dass es im Interesse der Arbeit schadenbringend ist. Ich kann aber nicht anders." Da rutscht dann auch schon mal der Hobel aus. Mit einem "Hitler-Heil im Herzen" geht er jeden Abend zu Bett.
In seinen Aufzeichnungen finden sich zunehmend rassistische und fremdenfeindliche Untertöne. So entdeckt er im Zug einen "ganz blöden, kulleräugigen Mulatten". Tschechische Touristen beschimpft er abfällig als "Krämer", "schlau und gerissen wie die Juden". Nach der Machtergreifung 1933 rechtfertigt Schall das brutale Vorgehen der Nazis: "Es wird rücksichtlos durchgegriffen, manche Härten und Ausfälle ändern nichts an der tadellosen Durchführung und Exaktheit der Maßnahmen."
Mit seinem Vater ist er da längst über Kreuz. Dieser, ein enger Freund des Schriftstellers Hermann Hesse, gerät in zunehmenden Widerspruch zum Naziregime, schreibt ein kritisches Traktat über Hitler und wird von der Gestapo verhaftet. Den Sohn rührt das wenig. Auch nach dem Krieg wird er sich nie vollständig vom "Erlebnis Hitlerjugend" distanzieren.
Schalls Tagebücher, die bis ins Jahr 1935 reichen, sind von den Nationalsozialisten frühzeitig als historische Dokumente erkannt worden. Noch in den 1930er Jahren wurde das handschriftliche Manuskript abgetippt. Auf abenteuerlichen Wegen hat es Krieg und Bombenangriffe überstanden. Die jetzige Ausgabe ist mit erklärenden historischen Begleittexten und Kommentaren versehen. Diese Tagebücher sind wertvoll, da in gewisser Weise auch zeitlos, denn sie erzählen viel über die verführerische Anziehugnskrraft radikaler Ideen auf die Jugend.
- André Postert: Hitlerjunge Schall. Die Tagebücher eines jungen Nationalsozialisten, Deutscher Taschenbuch-Verlag, München, 360 Seiten, 24,00 Euro, ISBN 978-3-423-28105-8.