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Leipziger Verlag mit seltener Veröffentlichung In der archaischen Welt der Nenzen

Im Leipziger Verlag Faber &Faber erscheint mit „Weiße Rentierflechte“ erstmals ein Roman einer Autorin der indigenen Volksgruppe Nenzen.

09.05.2021, 18:58
Autorin Anna Nerkagi gehört zur Minderheit der Nenzen.
Autorin Anna Nerkagi gehört zur Minderheit der Nenzen. Foto: privat

Von Grit Warnat Leipzig

Ein Rentiergespann zieht einen Schlitten mit Mensch und Gepäck. Das Foto zeigt Kälte und Einsamkeit, eine Unwirtlichkeit in Schnee und Eis.

Der brasilianische Fotograf Sebastião Salgado war 2014 für ein großangelegtes Fotoprojekt um indigene Gruppen auch zu den Nenzen gereist, jenem Volk, das im hohen Norden Russlands lebt. Als Nomaden ziehen sie mit ihren Rentierherden durch das Land. An immer wieder neuen Orten bauen sie ihre Tschums auf, ihre traditionellen kegelförmigen Zelte, die ihr Zuhause sind.

Einige der Arbeiten, die der Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels aufgenommen hat, sind dem Roman vorangestellt. Sie stimmen ein auf ein archaisches Leben, das man sich als Mitteleuropäer in heutiger Zeit schwer vorstellen kann. Traditionen, Glaube und Mythen prägen die Menschen. Götter beschützen Ehen und Nachkommenschaften, haben die Gewalt über Blitz und Donner, Wolken und Gewitterstürme. Seit Jahrhunderten wird danach gelebt, wird geheiratet, ein Hausstand gegründet, werden Rentiere gezüchtet.

Auch Anna Nerkagi, 1951 in der Tundra in Nordwestsibirien geboren, ist mit diesen Traditionen großgeworden. Dass die Frau das Feuer entfacht, dem Mann die Fellschuhe bringt, das Lager bereitet – Nerkadi erzählt darüber in ihrem Roman „Weiße Rentierflechte“, der viele Anleihen findet im eigenen Lebensbericht. Herausgegeben hat das Buch der Leipziger Faber & Faber Verlag. Er bewirbt es als erste Veröffentlichung einer nenzischen Autorin im deutschsprachigen Raum.

Nerkadis Protagonist Aljoscha, dem ein Rat der Alten die Braut bestimmt, will lieber sein individuelles Glück suchen. „Besah man es genau, hat er jetzt die Richtung verloren. Wie ein Fuchs, der seiner eigenen Spur nachläuft, war er in einem ausweglosen Kreis gefangen und fand nicht heraus.“

Die Gemeinschaft hat oberste Priorität, jeglicher Dünkel und Kraftgehabe haben keine Chance. Anders ist ein Überleben in dieser unerbittlichen Welt auch nicht möglich. „Hier wird auch dem Großtuer wieder bewusst, dass alle auf ein und derselben Erde leben und auch der Himmel über den Köpfen allen gehört.“

Die Nenzen leben mit der Natur, so intensiv, dass ihre Sprache sich so oft wiederfindet in Vergleichen mit Flora und Fauna und der unendlichen Weite der Tundra. Bei Nerkagi ist Glück wie ein listiger Fuchs, sind die Rentierherden so groß wie Wolkenfelder und ein unruhiger Schlaf wie der eines Vogels, der sein Nest auf einen unzugänglichen Felsen angelegt hat. Sie findet schöne Bilder für die sie umgebene Welt, die uns so fern ist und vielleicht gerade deswegen Sehnsüchte freilegt nach einem Leben fern unserer durchorganisierten Zivilisation.

Aber es ist gerade diese Zivilisation, die diese arktische Welt bedroht, auch, weil erst 2016 erhöhte Sommertemperaturen längst in Vergessenheit geratenen Epidemien zu neuem Leben verhalfen. Auf der Halbinsel Jamal kam es zu einem Milzbrandausbruch, massenhaft starben Rentiere. „Um die Nenzen zu vernichten, bedarf es keiner besonderen Arglist - man muss nur ihre Rentiere sterben lassen“, schreibt Nerkagi.

Die Welt hoch im russischen Norden ist trotz der Abgeschiedenheit verletzlich geworden. Nenzenkinder ziehen wie die Vögel fort, auch wenn sie sich in den Städten verirren wie „in einem dichten fremden Wald“. Wer den Weg nicht findet, geht unter. Oder kehrt zurück wie Anna Nerkagi, die für ihre Schulausbildung im Internat war, in der Ferne studierte, um in ihrer unwirtlichen Heimat Nenzen-Kinder auszubilden.