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Lesung Der akribische Gedankensammler in Magdeburg

Der Büchner-Preisträger Jan Wagner erzählt bei einer Lesung in Magdeburg von der Schönheit der Lyrik.

Von Grit Warnat 26.09.2019, 01:01

Magdeburg l Dichter haben ein überschaubares Publikum. Manche klagen darüber. Auch, dass sie wenig wahrgenommen und wertgeschätzt werden und man kein Geld mit dieser schönen Kunst verdienen kann. Jan Wagner, der am Dienstagbend zu den Literaturwochen in die Stadtbibliothek Magdeburg zur Lesung geladen war, kommt so gar kein Klagelaut über die Lippen. Auch wenn das spärlich vertretene Publikum wahrlich dazu Anlass gegeben hätte.

Aber Wagner liebt viel zu sehr schöne Sprache und all die vielen verschiedenen Formen der Lyrik. Das wird ganz schnell klar. Gleich zu Beginn sagt er: „Es gibt nichts Schöneres, als Gedichte zu ­schreiben.“ Dann lächelt er und plaudert weiter. Schon mit 15 habe er damit angefangen, mit 30 wurde er freischaffend. Von Gedichten leben, das gibt er zu, könne man nicht. Wagner schreibt Essays und übersetzt aus dem Englischsprachigen, nimmt an Projekten teil, wird immer wieder angefragt, auch von Zeitungen. Seine Preise und Stipendien, ob der Masse nicht wirklich zählbar, hätten ihm immer geholfen, seine wunderbare Arbeit, wie er sein Schreiben nennt, weiterführen zu können. Türöffner waren zwei höchst gewichtige Literaturauszeichnungen. Mit dem Preis der Leipziger Buchmesse 2015 (Wagner war mit „Regentonnenvariationen“ der erste Lyriker unter den Preisträgern) und der Ehrung mit dem höchst renommierten Georg-Büchner-Preis vor zwei Jahren hat es den 1971 in Hamburg geborenen und heute in Berlin lebenden Autor zwischenzeitlich in die Bestsellerlisten katapultiert.

Wenn er an diesem Abend in Magdeburg über seinen keineswegs klassischen Broterwerbsberuf spricht, dann kommt die ihm eigene humorige Note durch, die Leser auch an seiner Poesie so sehr schätzen. Wagner erzählt von einem Oma-Geburtstag, bei dem die Frage aufkam, was er denn beruflich so mache. Da erlebe er schon ein Stillschweigen und beflissentliches Zum-nächsten-Thema-Übergehen. Die meisten Mitmenschen würden das Gedichteschreiben mit einem Therapeutikum in Verbindung bringen oder mit netten Reimen zur goldenen Hochzeit.

Wagners Poesie ist versierte Sprachkunst. Die Themen: vermeintliche Banalitäten – ein Glastisch, ein Teebeutel, ein Muff, ein Glas Wasser. Es ist das scheinbar Alltägliche, dem er sehr eigene Inhalte gibt. Der Giersch, eines seiner ganz bekannten Gedichte, das man eigentlich eher mit einem floristischen Nachsinnen in Verbindung bringen würde, ist für Wagner zu einer politischen Betrachtung geworden. Denn in Giersch steckt das Wort Gier. „Was man aus den Bildern macht, ist jedem selbst überlassen“, sagt er. Das sei das Schöne an Gedichten: nirgendwo sonst könne man so intensiv die Welt mit Bildern erfassen.

Seine Welt in seinem neuesten Gedicht-Buch „Die Live Butterfly Show“ sind Krähen und Marder, ein Biker aus Montana und alternde Kapitäne. Er schreibt über „Parkhaustage“ und richtet einen „Brief ans Ende der Straße“. Wenn er liest an diesem Abend mit seiner ihm eigenen, schönen Intonation, meint man, seine Gedichte neu zu erfahren. Da verschmelzen Form und Klang anders als beim Lesen, wird seine Sprache zu einem verständlicheren Gebilde.

Was sich so leicht anhört, ist Ergebnis harter Arbeit. Der 47-Jährige trägt sich lange mit Themen herum, ringt um Worte und Szenen, bis das Sprachmaterial reichlich ist und zum Gedicht trägt. „Es ist ein ewiger Prozess des Gedankensammelns“, erzählt Wagner. Manches bunkere er jahrelang im Kopf, bis der rettende Gedanke da sei. Und dann gebe es auch für ihn so manches Mal die größte Freude: Wenn er sich selbst überrasche mit Form, Stil und Sprache.

Jan Wagner: „Die Live Butterfly Show“, Verlag Hanser Berlin, 104 S., 18 Euro.