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Antisemitismus / Literatur-Nobelpreis / Handtke / Grass Literatur-Nobelpreis für Ernaux „verstörend“

Um die neue Literatur-Nobelpreisträgerin Annie Ernaux gibt es Streit: Hintergrund sind ihre Beteiligung an israelfeindlichen Aktionen und Initiativen.

Aktualisiert: 16.10.2022, 21:06
Die französische Autorin Annie Ernaux 2019 in Paris.
Die französische Autorin Annie Ernaux 2019 in Paris. Foto: AP

epd / dpa / Uwe Kreißig

In der Debatte über die Verbindung von Literatur-Nobelpreisträgerin Annie Ernaux zur BDS-Bewegung plädiert der Kulturbeauftragte der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Johann Hinrich Claussen, für eine Unterscheidung von Autorin und Werk. Der Literatur-Nobelpreis werde als Würdigung eines künstlerischen Werkes vergeben, sagte Claussen. Es sei wichtig, zwischen Literatur und politischen Äußerungen zu unterscheiden, wenngleich das nicht bei allen Autoren leicht sei.

Es gebe Autoren, die nicht nur über ihre Bücher mit der Öffentlichkeit kommunizierten. Er nannte als Beispiele politische Äußerungen der Literatur-Nobelpreisträger Günter Grass und Peter Handke. Grass, der 1999 den Nobelpreis erhalten hatte, geriet 2012 in die Kritik, weil er in einem Gedicht den Staat Israel als Aggressor darstellte. Handke, der 2019 mit dem schwedischen Preis ausgezeichnet wurde, wurde seine Solidarität mit Serbien vorgeworfen.

Bei Grass kam noch dazu, dass zum Zeitpunkt seiner Wahl zum Literatur-Nobelpreisträger nichts über seine Zugehörigkeit in der Waffen-SS bekannt war. Erst im Jahr bekannte er sich in dem autobiographischen Werk „Beim Häuten der Zwiebel“ zu diesem Geheimnis.

Claussen sagte, eine öffentliche Debatte über politische Meinungen von Autoren sei wichtig und richtig. Solange wie im Fall Ernaux keine strafrechtliche Grenze überschritten werde, solle man sich aber auf den offenen Diskurs konzentrieren. Man dürfe diesen Preis auch nicht bedeutsamer machen, als er sei, so Claussen. Der Literatur-Nobelpreis habe schon deutlich bessere Zeiten gehabt. Die französische Schriftstellerin Annie Ernaux hatte ihn vergangene Woche zugesprochen bekommen.

Zuvor hatten jüdische Organisationen gegen den Preis für Ernaux protestiert. „Die Auszeichnung von Annie Ernaux mit dem Literaturnobelpreis ist ein Rückschlag für den weltweiten Kampf gegen Antisemitismus und Menschenfeindlichkeit“, sagte der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster.

Ernaux wird auch eine Nähe zur antisemitischen BDS-Bewegung vorgeworfen. BDS steht für „Boykott, Desinvestition und Sanktionen“. Dies richtet sich unter anderem gegen Waren aus Israel sowie die Zusammenarbeit in Kultur und Wissenschaft.

Ernaux hatte unter anderem 2018 zusammen mit 80 Kultur- und Kunstschaffenden auch zum Boykott der Kultursaison „Frankreich-Israel“ aufgerufen und 2019 zum Boykott des Eurovision Song Contests in Tel Aviv.

„Annie Ernaux' überzeugte Unterstützung der BDS-Bewegung, ihre öffentliche Dämonisierung Israels als einen ,Apartheidstaat’ oder ihre Forderung der Freilassung eines libanesischen Terroristen und Mörders sind keine Ausrutscher einer politisch unbedachten Schriftstellerin, sondern Ausweis einer klar antisemitischen Haltung“, sagte Schuster: „Das Signal, das von diesem Nobelpreis ausgeht, ist für Jüdinnen und Juden auch in Deutschland gerade nach der skandalösen documenta äußerst verstörend.“

Die 82-jährige Autorin selbst nahm bislang keine Stellung zu den Vorwürfen.

Johann Hinrich Claussen
Johann Hinrich Claussen
Foto: Imago