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Literatur „Medea“ und „Philoktet“ neu übersetzt

Mit seinen uneitlen Neuübersetzungen zwei der berühmtesten altgriechischen Tragödien zeigt Kurt Steinmann, wie aktuell noch heute Euripides und Sophokles sind - und wie verstörend.

Von Sebastian Fischer, dpa Aktualisiert: 06.12.2022, 16:55
Apollo-Tempel in Korinth. In der griechischen Stadt hat dem Mythos von Euripides zufolge Medea als Rache an Jason ihre beiden gemeinsamen Kinder getötet.
Apollo-Tempel in Korinth. In der griechischen Stadt hat dem Mythos von Euripides zufolge Medea als Rache an Jason ihre beiden gemeinsamen Kinder getötet. Sebastian Fischer/dpa

Berlin - Sowohl Medea als auch Philoktet haben 431 vor Christus ihren großen Auftritt bei den Athener Dionysien. Beide Figuren bringt Euripides damals bei dem Theaterwettkampf in jeweils eigenen Tragödien auf die Bühne. Auch wenn die Preisrichter dem antiken Dramatiker in jenem Jahr nur den dritten und damit letzten Platz zugestehen, so haben bis heute - bald 2500 Jahre später - weder der Mythos um Medea noch der um Philoktet an Anziehungskraft verloren.

Beiden Charakteren widmet sich nun Übersetzer Kurt Steinmann. Seine „Medea“-Übertragung, an der der 77-jährige Schweizer rund anderthalb bis zwei Jahre arbeitete, ist jüngst zweisprachig und prächtig illustriert bei Manesse erschienen. Der „Philoktet“ von Euripides ist abgesehen von ein paar Fragmenten heute nicht mehr erhalten, dafür aber das berühmte gleichnamige Stück vom Dichterkollegen Sophokles, erstmals aufgeführt 409 vor Christus. Dieses Dramas hat sich Steinmann wiederum für Diogenes angenommen.

Die Rache einer betrogenen Frau

„Es sind hervorragend komponierte Stücke“, erklärt der Übersetzer im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur. Die Intrigenstoffe hätten eine „absolute Radikalität, gerade in der Darstellung der existenziellen Randsituationen“.

Wie keine zweite verkörpert Medea bis heute die betrogene Frau, die aus gekränktem Stolz die Rache über das eigene Glück stellt. Mit dem gestohlenen Goldenen Vlies war sie auf der Argo mit Jason, von dem sie zwei Kinder hat, aus Kolchis geflohen. Doch in der neuen Heimat Korinth geht ihr Gatte eine Ehe mit der dortigen Königstochter ein.

Medea schwört auf Vergeltung und will dem Ehebrecher größten Schmerz zufügen. „Mich jammert, was für eine Tat ich nachher noch / verüben muss: Die Kinder nämlich werd ich töten.“ In seinem unvergleichlich aufwühlenden Stück lässt Euripides seine Protagonistin immer wieder schwanken, den grausamen Plan zu vollziehen oder zu verwerfen. Für Steinmann verkörpert Medea Widersprüchlichkeit und Gespaltenheit in radikaler Form. „Im Grunde genommen ist sie nicht zu fassen.“

Medea ist die Geächtete

Altphilologin Katharina Wesselmann sieht in der Figur feministische Züge, Jahrtausende bevor der Begriff überhaupt definiert wurde. „Wenn Medea eine lange Rede hält über das Elend der Frauen, die von ihrem Mann abhängig sind, dann hat man das Gefühl, das sei ein Text aus dem 21. Jahrhundert“, sagt die Kieler Professorin.

„Medea“ ist für die damalige Zeit eine Zumutung. Euripides ist wohl der erste, der sie zur Kindermörderin macht. Ältere Belege für dieses Motiv gibt es nicht. Die Kolcherin symbolisiert aber genauso: das Fremdsein. Schon vor ihrer monströsen Tat ist für die Geächtete in Korinth kein Platz. Hier zeigen sich Parallelen zu Philoktet.

Das Sophokles-Stück hat Steinmann wiederum gewählt, weil die Figur ein Ausgestoßener und politisch Instrumentalisierter ist. Auf dem Weg nach Troja hatte er sich verletzt und wurde von seinen griechischen Gefährten auf Lemnos zurückgelassen. „Er wurde ausgeschlossen wegen einer schwärenden, eiternden Wunde, die gerochen hat. Das hat mich natürlich an die Corona-Pandemie erinnert“, sagt der Schweizer.

Odysseus und Neoptolemos versuchen den Elenden zu überzeugen, zurück in die Reihen der Griechen zu kommen. Denn ein Orakel hatte vorausgesagt, Troja werde nur durch Philoktets Hilfe fallen.

Ein neuer Blick auf zwei Klassiker

Sophokles verhandelt in seinem Drama, wie Zwang, Lüge und Intrige für politische Ziele genutzt werden - und rüttelt dabei auch an der Heldenverehrung. „Bei Homer ist Odysseus trotz kleiner Defizite eine grundsätzlich positive Figur“, sagt Altphilologin Wesselmann. „Bei Sophokles ist er ein eher unangenehmer Kerl, ein Lügner, der sich immer alles zu seinem Vorteil dreht. Die Listigkeit, die bei Homer heldenhaft ist, wird von Sophokles ins Negative gedreht.“

Es ist ein Gewinn, dass Steinmann einen neuen, klaren Blick auf die beiden Klassiker gewährt. In seinen Übersetzungen bleibt er nah an den Originalen. „Nichts ergänzen, nichts weglassen, dem Text nichts eigenes aufschwätzen“, sagt er. „Meine obersten Prinzipien: Strenge, aber nicht Pedanterie; Freiheit, aber nicht Willkür.“

Im Deutschen übernimmt er das jambische Versmaß des griechischen Originals. „O wäre doch das Schiff - die Argo - nicht geflogen hin / zum Land der Kolcher“, lässt er etwa die „Medea“ wahrlich meisterhaft beginnen. Nicht nur, aber auch dieser einnehmende Rhythmus ist es, der Steinmanns Texte zu literarischen Glanzstücken macht.

Euripides: „Medea“, zweisprachige Ausgabe, aus dem Altgriechischen von Kurt Steinmann, Manesse Verlag, 240 S., 60,00 Euro, ISBN 978-3-7175-2559-2

Sophokles: „Philoktet“, aus dem Altgriechischen von Kurt Steinmann, Diogenes, 144 S., 25,00 Euro, ISBN 978-3-257-07215-0