Rafik Schami: Ein Autor ist wie ein Puzzle
Rafik Schami ist Deutschlands größter Märchenerzähler. Der Migrant aus Syrien hat Dutzende Geschichten voller Empfindungen, Gerüche und Sehnsüchte geschrieben. Nun wird er 70 - und möchte erstmal weiterschreiben.
Mainz (dpa) - Die fabelhaften Geschichten von Rafik Schami haben Millionen Leser in eine orientalische Welt entführt. Immer und immer wieder beschreibt Schami seine erste Heimat Damaskus, mit all ihren verwinkelten Gassen, Singvögeln und klatschsüchtigen Bewohnern.
Pünktlich sein und Frauen respektieren habe er dort gelernt, sagt er. Deutsch sei an ihm die Sprache und die Freiheit. Wie viele Bücher er noch schreiben möchte, erzählt der Schriftsteller vor seinem 70. Geburtstag (23. Juni) im Interview der Deutschen Presse-Agentur.
Frage: Wo verfassen Sie Ihre Bücher?
Antwort: Ich arbeite an einem sieben Meter langen, l-förmigen Tisch, den mir ein Freund gemacht hat. An der Wand über dem Computer hängt ein großes Foto von dem Ort, an dem ich in meiner Kindheit oft mit Murmeln gespielt habe. Das ist ein Korridor mit schönen Fliesen, offen zum Innenhof, mit Jasminblüten rechts und Zimmertüren links. Daneben hängt eine Kalligraphie von einem Freund aus Mannheim. Darauf steht auf Arabisch: Geduld und Humor sind zwei Kamele, mit denen man jede Wüste überqueren kann. Damit fängt "Sophia" an, mein jüngster Roman. Das ist mein Lebensmotto.
Frage: Wozu braucht man Humor?
Antwort: Damit Sie nicht verbittern, wenn irgendetwas nicht klappt. Wenn zum Beispiel Skripte abgelehnt werden. Meine heutigen Welterfolge wurden von fast zwanzig Verlagen nicht genommen. Ich habe einen Ordner mit dem Etikett "freundliche Ablehnungen". Sie dürfen nicht lange anhalten bei der Bitterkeit. Sie waschen sich Ihr Gesicht, machen sich einen Espresso, setzen sich hin und fangen wieder an zu schreiben. Das nenne ich Humor, nicht das Witze erzählen. Gut, eine Ablehnung ist eine Ohrfeige, eine Kopfnuss, doch das macht nichts. Humor ist, dass Sie diesen ungünstigen Augenblick nicht an ihre Laune herankommen lassen, denn dann leiden die Geschichten darunter.
Frage: Wie viel von Damaskus findet sich in Ihrem Haus in Marnheim in der Pfalz wieder?
Antwort: Ich habe eine große Bibliothek, eine Riesenbibliothek. Die Bücher stehen mittlerweile in zwei Reihen. Daher versuche ich, viele Bücher zu verschenken, die ich nicht mehr brauche. Meine Schwester Marie hat mir jedes Buch geschickt, das mit Damaskus anfängt oder endet: Kochrezepte, Spaziergänge, Kriege, Putsche, Persönlichkeiten, Hochzeitssitten, Beerdigungssitten, Stadtpläne. Daraus nehme ich die Informationen - wie sie sind, nicht so, wie ich sie mir wünsche. Das wäre ein Fehler. Ich bin so glücklich, wenn ein engagierter Leser sagt: "Herr Schami, wir sind ihrem Buch nachgelaufen, es stimmt jedes Detail." Und ich sage: "Ja natürlich, es sollte auch stimmen!"
Frage: Woher kommen die Ideen für Ihre Geschichten?
Antwort: Die Zauberquelle meiner Geschichten ist die Zunge der anderen. Ich liebe Erlebnisse - die muss man dann natürlich noch würzen. Eine andere Quelle ist das Kino. Ich gehe mit meiner Frau zusammen gerne in München ins Kino, denn bei uns auf dem Dorf gibt es das nicht. Wir machen dann einen Kinotag und sehen zwei, drei Filme hintereinander. Manche Filme wühlen auf, und ich frage mich: Wie kann ich das erzählen? Das hier ist mir zu europäisch. Wie wäre das in Damaskus passiert? Die Themen sind doch seit der Zeit der Chinesen dieselben: Liebe, Mord, Totschlag, Treue, Verrat, Armut, Reichtum. Und wir spielen die Varianten durch.
Frage: Wie viel Persönliches steckt in Ihren Romanen?
Antwort: Ein Autor ist wie ein Puzzle. Mit seiner Seele, mit seiner Vergangenheit, mit seinen Wünschen, mit seiner Sozialisation, mit seiner politischen oder kulturellen Haltung. Beim Schreiben wirft er das ganze Bild in die Luft und die Puzzleteile regnen herab. Sie gehen zusammen: zu dritt hier, zu zehnt dort, hundert da, und eins nur dort. Ich bin also ein Teil von Salman, von Karim, von Aida, von Stella, sogar ein Stück von dem Goldschmied, der so starr ist und gar nichts macht. Manchmal bin ich das auch.
Frage: Sie haben bereits länger in Deutschland gelebt als in Syrien. Was an Ihnen ist deutsch?
Antwort: Deutsch an mir ist die Sprache. Außerdem das Leben in Freiheit, das kannte ich in Damaskus nicht, das habe ich hier gelernt. Dass man seine Meinung sagt, ohne sich danach umzuschauen, ob jemand mithört. Termine einhalten habe ich hingegen nicht in Deutschland gelernt. Es war die Jesuitenschule in Damaskus, die mich diszipliniert hat. Auch Respekt gegenüber Frauen habe ich schon früh von meiner Mutter gelernt. Ich war als Kind oft krank, deswegen begleitete mich meine Mutter sehr intensiv, als Freundin, als schützende Hand. Ich durfte als einziges Kind nie geschlagen werden. Das war eine Gnade des Himmels.
Frage: Wie haben Sie gelernt, auf Deutsch zu schreiben?
Antwort: Deutsch war meine fünfte Sprache. Zwei Jahre lang habe ich Romane von angesehenen Autoren genommen, etwa die Buddenbrooks von Thomas Mann, und Zeile für Zeile abgeschrieben. Immer, wenn mir ein Satz gefallen hat, habe ich angehalten, und geschaut: Was gefällt mir? Wieso fasziniert mich die Spannung darin? Hat er Adjektive gebraucht oder nicht? Dieses Abschreiben lässt die Sprache über die Hand viel fester in den Kopf gehen, als wenn ich nur mit den Augen lese. Das ist meine Erfahrung, ich kann nicht theoretisch darüber reden. Als ich sicheren Boden unter den Füßen spürte, fing ich mit kleinen Erzählungen an.
Frage: Mussten Sie das deutsche Publikum an Ihre orientalische Erzählkunst erst heranführen? Oder können alle Menschen gleich zuhören?
Antwort: Am Anfang kamen nicht einmal fünf Leute zu meinen Erzählungen. Skeptisch fragten sie: "Was, Sie erzählen frei? Ist das eine Märchenstunde?" Alle waren ängstlich, dass das eine Kinderveranstaltung wird. Die erwachsenen Deutschen haben immer ein Problem damit, wie Kinder zu erscheinen. Zum Beispiel lachen sie verhalten und gähnen mit geschlossenem Mund. Und am Ende sagen sie: "Interessant." So habe ich Jahre gebraucht. Diese fünf Zuhörer, die zunächst da waren, wurden zu meinen Botschaftern. Heute sind alle Lesungen ausverkauft.
Frage: Würden Sie gerne nur noch erzählen?
Antwort: Das Schreiben ist wichtig. Weil ich sonst anfange, mich zu wiederholen. Dann langweile ich mich. Ich schreibe gerne, weil dann für mich eine neue Tournee anfängt, mit frischen Geschichten. Manchmal entstehen die Geschichten auch mit dem Publikum. Wenn einer im Publikum sich vergisst und kommentiert, dann reagiere ich auf ihn mit einer kleinen Episode, und sage: "Das steht nicht im Roman, aber ich erkläre es kostenlos." Dann kommt ein Lacher, es entsteht eine freundliche Atmosphäre. Meine Sache ist die eines Schmugglers, der das Lachen als eine Rutsche für schwere Inhalte gebraucht. Wenn mir das gelingt, bin ich ein König.
Frage: Werden Sie sich bald zur Ruhe setzen?
Antwort: Nein. Ich habe jetzt schon wieder ein Projekt in der Hand. Aber ich möchte auf dem Höhepunkt abdanken. Ich habe nämlich beobachtet, was passiert, wenn Autoren diesem Punkt nicht erwischen. Sie werden immer lächerlicher, immer schwächer, immer schlechter. Und so wischen sie vieles von ihrem Ruhm, von ihren Leistungen weg. Ich mache vielleicht noch ein, zwei Bücher und ein, zwei Tourneen - reduziert aber, ich will mich nicht übernehmen. Man soll nicht übertreiben.
ZUR PERSON: Rafik Schami ist der wohl bekannteste syrischstämmige Autor. Seine Bücher wurden in 29 Sprachen übersetzt und mehr als zwei Millionen Mal verkauft. In Damaskus geboren, kam er mit 25 Jahren nach Deutschland und promovierte in Chemie. Im Ruhestand will er seiner Frau bei ihren Ausstellungen helfen.