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Literatur Zum 90. Geburtstag von Brigitte Reimann

Ruhelos, lebenshungrig, wie besessen schreibend: Brigitte Reimann schien zu ahnen, dass sie nicht alt werden würde. Schonungslos kritisch ging die Autorin mit sich und anderen um. Sie hinterließ ein beachtliches Werk, nicht nur literarisch.

Von Anett Böttger, dpa 21.07.2023, 18:56
Undatierte Aufnahme der DDR-Schriftstellerin Brigitte Reimann.
Undatierte Aufnahme der DDR-Schriftstellerin Brigitte Reimann. --/Zentralbild/dpa

Hoyerswerda/Neubrandenburg (dpa) – - „Nur nicht schweigen, nur nicht schweigend Falsches mit ansehen, und dadurch es billigen.“ 1960 schrieb Brigitte Reimann (1933-1973) diesen Grundsatz in ihr Tagebuch. Die Schriftstellerin glaubte an die Ideale des Sozialismus und lebte dennoch unangepasst in der DDR. Trotz Widerständen blieb sie sich stets treu, nahm nie ein Blatt vor den Mund und trat für freie Meinungsäußerung ein. Am 21. Juli wäre die viel zu jung an Krebs gestorbene Autorin 90 Jahre alt geworden.

Carsten Gansel beschreibt Reimann als „moderne, selbstbestimmte Frau, deren Literatur sich für jede neue Generation als erstaunlich relevant erweist.“ Der Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Gießen hat eine umfassende Biografie über die Schriftstellerin verfasst, die unter dem Titel „Ich bin so gierig nach Leben“ gerade im Aufbau-Verlag erschienen ist. Das Wunder ihres Lebens bestehe darin, „wie sie immer wieder neu Mut schöpfte, arbeitete, liebte - alles in der ihr ganz eigenen Intensität“.

Schreiben als Hauptberuf

Brigitte Reimann kam in Burg bei Magdeburg zur Welt und wuchs dort als Älteste von vier Geschwistern auf. Schon frühzeitig orientierte sie sich beruflich. „...ich will gerne Schriftsteller werden, aber nicht nur nebenbei, sondern als Hauptberuf“, schrieb sie 1947 einer Freundin - in einer Zeit, als sie selbst an Kinderlähmung erkrankt war. Lebenslang behielt sie eine leichte Gehbehinderung.

Nach dem Abitur arbeitete Reimann in ihrem Geburtsort Burg zunächst als Grundschullehrerin, ab 1953 dann als freie Autorin. In den Jahren darauf erschienen ihre ersten Erzählungen, darunter „Die Frau am Pranger“. Mit ihrem zweiten Ehemann, dem Schriftsteller Siegfried Pitschmann, zog sie 1960 nach Hoyerswerda. Fünf Jahre zuvor war dort der Grundstein für die gewaltige Erweiterung des Ortes gelegt worden, der bis dahin lediglich rund 7000 Einwohner zählte.

„Zirkel schreibender Arbeiter“

„Die ganze Stadt war mir unsympathisch in ihrer aufdringlichen Neuheit“, notierte Reimann wenige Tage nach dem Einzug in eine Zwei-Raum-Wohnung. Im Braunkohlenveredlungskombinat Schwarze Pumpe unweit von Hoyerswerda arbeitete die Autorin in einer Rohrlegerbrigade und leitete den „Zirkel schreibender Arbeiter“. Die Eindrücke im Werk und vom Aufbau der Neustadt inspirierten sie literarisch, etwa für die Erzählung „Ankunft im Alltag“ oder für den Roman „Franziska Linkerhand“. An der Geschichte über eine junge Architektin arbeitete sie unermüdlich weiter, als sie 1968 nach Neubrandenburg umzog.

Eine damals bereits diagnostizierte Krebserkrankung bremste den Ehrgeiz der Autorin keineswegs, zwang sie allenfalls, Pausen einzulegen. Schon 1959 bekannte sie: „Ich brauche meine Arbeit ... wirklich beinahe wie ein Rauschmittel, sie ist einfach Glück, eine Selbstbefriedigung ...“ „Franziska Linkerhand“ blieb unvollendet und wurde 1974 postum veröffentlicht. Nach Angaben des Literaturzentrums Neubrandenburg brachte das Werk der Autorin nach ihrem Tod auch internationale Bekanntheit. Seinerzeit vorgenommene Änderungen und Streichungen wurden in der ungekürzten Fassung des Buches rückgängig gemacht, die 1998 erschien.

Briefwechsel mit Christa Wolf

Bereits im Jahr zuvor kamen die Tagebücher von Brigitte Reimann heraus. „Ich kann mich nicht erinnern, das Buch einer Frau in deutscher Sprache gelesen zu haben, in dem die Sehnsucht nach Liebe mit einer solchen Sinnlichkeit und Intensität gezeigt wurde“, sagte Kritiker Marcel Reich-Ranicki, als die Originalausgabe Thema in der von ihm geleiteten Fernsehsendung „Das Literarische Quartett“ war. „Es hat mich ergriffen.“

Reimann, die vier Mal verheiratet war, hinterließ unzählige Briefe. So führte sie einen intensiven Austausch mit Christa Wolf. In der 2016 veröffentlichten Korrespondenz zwischen den beiden Autorinnen entfalte sich „ein authentisches Porträt des DDR-Alltags voller Schwierigkeiten, Hoffnungen und Illusionen“, heißt es in der Beschreibung des Verlags.

Erst im vergangenen Jahr erschien Reimanns Erstlingswerk „Die Denunziantin“ in der Urfassung, die „frei von Zensur und von Eingriffen anderer“ sei, sagt Herausgeberin Kristina Stella. Zwar hatte der Aufbau-Verlag 2003 ein Fragment des Romans in einem Sammelband veröffentlicht. Diese Fassung bricht allerdings nach dem sechsten Kapitel ab und sei „meilenweit“ vom ursprünglichen Stoff entfernt.

Reimann hatte das mehrfach überarbeitete Manuskript drei Verlagen angeboten, jedoch ohne Erfolg. „Die Autorin hat die insgesamt rund 1000 Seiten nie weggeworfen und bei allen Umzügen mitgenommen“, erzählt Stella. Die Publizistin fand alle vier Fassungen im Literaturzentrum Neubrandenburg, wo der Nachlass der Schriftstellerin aufbewahrt wird. Ein Vergleich mit ihrem letzten Roman zeige, welche Entwicklung sie über die Jahre nahm. Mit 19 Jahren sei sie eine „glühende Verfechterin des neuen sozialistischen Staates“ gewesen. In „Franziska Linkerhand“ äußerte sie sich dagegen deutlich kritischer über die DDR.    

In ungekürzter Fassung liegt seit diesem Jahr auch das Buch „Die Geschwister“ vor, das 1963 erstmals herauskam. Die Neuerscheinung basiert auf der in großen Teilen überlieferten Originalniederschrift. Diese tauchte 2022 überraschend in Hoyerswerda auf, im dem Haus, wo die Autorin fast neun Jahre wohnte. Unter der Kellertreppe entdeckten Mitarbeiter einer Beräumungsfirma einen Karton mit allerlei Schriftstücken, darunter fünf handgeschriebene Kapitel und ein unvollständiges Typoskript der „Geschwister“. Der Zufallsfund ist derzeit nahezu komplett im Schloss von Hoyerswerda zu sehen. Das Stadtmuseum zeigt dort noch bis 3. September die Ausstellung „Drei Kreative. 100 Jahre. Eine Stadt“, die sich auch dem Wirken von Brigitte Reimann widmet.