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Domfestspiele Ein Verdammter verteidigt sich

Schauspieler Ben Becker brilliert mit „Ich, Judas“ bei den Magdeburger Domfestspielen.

Von Claudia Klupsch 05.06.2016, 23:01

Magdeburg l Ben Becker haben es biblische Stoffe angetan. Gemeinsam mit Dramaturg John von Düffel wagte er sich nun an das Thema des Verrats, an Judas, an das Unterfangen, dessen Handeln zu hinterfragen, an eine These, die nicht mehr über einen Scharlatan nachdenken lässt. Der Abend im Dom ist anspruchsvoll, schwierig, fordernd – für Ben Becker und für seine Zuhörer.

Das sakrale Ambiente in erhabenem Gemäuer mit Kerzenlicht, Jesuskreuz und Orgelmusik passt. Ben Becker steht am Pult, in weißem Anzug, in der Farbe der Unschuld. „Einer von euch wird mich verraten“, sind Worte aus dem Matthäus-Evangelium, in Beckers markantem Bass zu vernehmen. Der Schauspieler liest nicht pathetisch, dennoch bewegt. Zu dem, was im Folgenden passiert, sind die Sätze aus der Bibel nur eine Art Prolog. Beckers Inszenierung steigert sich – von Minute zu Minute.

„Es gibt kein Erbarmen auf der Welt“. Becker ruft es laut in das Kirchenschiff hinein. Anklagend, verzweifelt. Seine Stimme scheint in jeden Winkel des Bauwerks zu dringen. Er ist zu einem Auszug aus dem Roman des israelischen Autors Amos Oz übergegangen, in dem die Hinrichtung Jesu geschildert wird. Schreien und gebrochenes Stöhnen („Mutter!“), blutgierige Fliegen, das Johlen der geifernden Zuschauer.

Ben Becker in der Rolle des Judas klagt sich an: „Ich habe ihn ermordert. Ich habe Nägel in sein Fleisch getrieben.“ Die unerträgliche Schuld belastet den Verräter. Der Schauspieler weiß diesen Menschen zu zeigen.

„Ich befolgte einen Befehl“, schallt es im nächsten Augenblick in den Dom. Becker, inzwischen in weißem Mantel und barfuß, gibt den Judas, der sich erklärt, der sich verteidigt.

Der Schriftsteller Walter Jens liefert ihm den Text mit der „Verteidigungsrede des Judas Ischariot“. Die These: Ohne Judas gibt es kein Kreuz, ohne Kreuz keine Kirche, keine Überlieferung der Botschaft. Weil Judas sich dazu hergab, Verräter zu sein, konnte Jesus überliefert werden. „Judas ist nichts ohne Jesus. Aber Jesus ist auch nichts ohne Judas.“

Becker rezitiert den Text frei. Der Dom wird zu seiner Bühne, auf der er brüllt, klagt, argumentiert, jammert, auf den Tisch haut, sich auf diesen legt. Er sucht die Zwiesprache mit Jesus. Er geht dicht an seine Zuhörer heran. „Passt auf! Denkt nach!“, fordert er von den Menschen („ihr jämmerlichen Bibel-Leser“), die ihn seit 2000 Jahren als Sündenbock verdammen. „Was war denn schon zu verraten? Jesus´ Aufenthaltsort war bekannt.“ Dass er Sohn Gottes sei, habe er selbst verkündet. Becker geht in den Mittelgang. „Ihr kennt nicht die heilige Schrift!“, brüllt er. „Ich nenne es Gehorsam, aus freien Stücken den Satan zu spielen, um zu beweisen, wozu Menschen fähig sind“, gibt er den zu Unrecht Verfluchten.

Judas´ offensive Verteidigungsrede gipfelt in der Forderung: „Ich verlange, dass mein Schuldspruch aufgehoben wird!“ Becker geht in der Figur auf, der Schauspieler verschwindet in ihr, er lebt den Judas, zeigt seine Qualen, er lebt die Rolle, ist in den Text eingetaucht.

Becker wechselt nicht Duktus und Pathos, als er für wenige Sätze aus dem Jens-Text ausschert. „Wie viele Kinder sind gestern im Mittelmeer ertrunken? Bei zehn Grad unter Null floh eine Mutter mit ihrem Baby über den Balkan und irgendein Arschloch wirft hier einen Molotow-Cocktail auf sie. Und die Coca-Cola-Werbung läuft weiter.“ Emotionen, die genau hier und jetzt richtig sind.

Becker steht auf dem Tisch, als er in den Dom dröhnen lässt: „Ja, ich bin ein Jude!“ Denn sein Judas quält bei aller Rechtfertigung die Frage, was wäre, wenn es keinen Verrat gegeben hätte. Wäre Jesus nicht gekreuzigt worden, wäre es dann nicht zu Glaubenskriegen und Pogromen gekommen? Hätte es den Hass auf Juden, die Lager und Gaskammern nicht gegeben?

Becker atmet schwer, als er um das Zeichen fleht, um das Zeichen: Ja, dann gebe es Frieden und Versöhnung. Es bleibt aus. Das dröhnende, laute zweifache „Nein“ hallt im Gotteshaus nach. Beckers Zuhörer nehmen diese Frage mit sich – aber erst, nachdem sie dem von Emotionen überwältigten Schauspieler mit langem Applaus gedankt haben.