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Unwort des Jahres "Kampfbegriff" Corona-Diktatur

"Corona-Diktatur" und "Rückführungspatenschaften" heißen die Unwörter des Jahres 2020. Experten erklären die Entscheidung.

Von Massimo Rogacki 13.01.2021, 11:41

Magdeburg l "Corona-Diktatur" und "Rückführungspatenschaften" heißen die Unwörter des Jahres 2020. Wie die Corona-Pandemie den öffentlichen Diskurs in diesem Jahr geprägt hat und warum erstmals zwei Begriffe gewählt wurden, erklären Jurymitglied Kersten Roth und Kristin Kuck von der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg im Interview mit Massimo Rogacki.

Herr Roth, wie wurde "Corona-Diktatur" im öffentlichen Diskurs gebraucht?
Kersten Roth: Es ist ein Kampfbegriff, der unter anderem von selbsternannten Querdenkern mit Bezug auf die Corona-Maßnahmen verwendet wird. Er wird vor allen Dingen auf genehmigten und polizeilich geschützten Demos skandiert, auch dort, wo gleichzeitig verfassungsfeindliche Symbole gezeigt werden. Das pervertiert unserer Meinung nach den Ausdruck Diktatur, verhöhnt diejenigen, die weltweit unter Gefahr für Leib und Leben Widerstand leisten und behindert eine dringend notwendige, wirklich kritische demokratische Diskussion über die sehr weitgehenden politischen Maßnahmen.

Die Jury hat in diesem Jahr zwei Unwörter gekürt. Wie kam es dazu?
Roth: Die Jury hat neben dem eigentlichen Unwort von Beginn an immer auch auf weitere problematische Wörter aufmerksam gemacht, die dann auf den Plätzen zwei und drei gelandet sind. In diesem Jahr haben wir uns tatsächlich nicht für zwei Unwörter, sondern für ein Unwort-Paar entschieden. Man muss beide Wörter zusammendenken: Neben der vielleicht naheliegenden "Corona-Diktatur" war uns wichtig, mit "Rückführungspatenschaften" darauf aufmerksam zu machen, dass es weiterhin auch in anderen Bereichen inhumanen und unangemessenen Sprachgebrauch gibt.

Was wird mit dem Begriff "Rückführungspatenschaften" suggeriert?
Roth: Dass die Organisation von Abschiebungen durch Staaten, die sich der humanitären Pflicht Europas verweigern, Flüchtlinge aufzunehmen, etwas mit Fürsorge und Menschlichkeit zu tun haben könnte. Dafür nämlich steht der Ausdruck "Patenschaft". Dass es sich dabei um einen offiziellen Ausdruck der EU handelt, macht die Sache noch prekärer.

Corona-Vokabular ist längst in unsere Alltagssprache eingegangen. Betrafen viele der Einsendungen in diesem Jahr das Thema Corona?
Roth: Wir alle beschäftigen uns notgedrungen jeden Tag mit der Pandemie und ihren Folgen. Natürlich haben wir uns schnell auch die Sprache dafür angeeignet. Es überrascht also nicht, dass neben Corona-Diktatur tatsächlich noch eine große Zahl anderer Einsendungen aus dem Bereich kam.

Wie läuft die Entscheidungsfindung in der Jury?
Roth: Zunächst werden ausnahmslos alle Einsendungen gesichtet. Dann wählen alle Jurymitglieder unabhängig voneinander ihre "Favoriten". Die daraus entstehende Shortlist wird dann in der Sitzung Wort für Wort diskutiert. Wir haben nie Mehrheitsentscheidungen getroffen, sondern sprechen so lange, bis wir uns auf eine Lösung geeinigt haben, die wir alle inhaltlich vertreten können. Das dauert oft viele Stunden.

Dies war die letzte Unwort-Wahl der bisherigen Jury, eine neue übernimmt. Wie kam es zu diesem Wechsel?
Roth: Wir haben in der jetzigen Zusammensetzung zehn Jahre zusammengearbeitet. Wir denken, dass es so einer Aktion, die ja davon lebt, Dinge infrage zu stellen, guttut, nun in andere Hände gelegt zu werden. Wir haben sie ja auch nur von unserem Kollegen, dem Linguisten Horst-Dieter Schlosser, geerbt, der sie vor genau 30 Jahren gegründet hat. Dass die Aktion heute nötiger ist denn je, darüber sind wir uns einig. Und mich persönlich freut natürlich sehr, dass die Uni Magdeburg weiterhin vertreten sein wird.

Frau Kuck, Sie werden zukünftig in der Unwort-Jury vertreten sein. Warum halten Sie die Aktion für wichtig?
Kristin Kuck: Die Kritik an Wörtern ist keine sprachwissenschaftliche Spitzfindigkeit, sondern wichtiger Bestandteil demokratischer Diskurse. Oft ist nämlich der Streit um Wörter nicht einfach ein Streit über sprachliche Ausdrücke, sondern ein Schlachtfeld, auf dem ideologische Kämpfe ausgetragen werden. Das zeigt sich ja auch in den oft sehr emotionalen Reaktionen auf die Unwort-Wahl, sowohl bei Zustimmung als auch bei Ablehnung. Deshalb halte ich diese Aktion für so wichtig. Weil sie in regelmäßigen Abständen auf die zurückliegenden Debatten schaut, dabei einen Schritt zurücktritt und reflektiert, was auf diesem Feld passiert ist und welche Tendenzen sich abzeichnen. Ich möchte in der neuen Jury diesen Prozess begleiten.

Wird die Entscheidung über das Unwort auch weiterhin auf eingesendeten Vorschlägen beruhen?
Kuck: Ja. Es ist zu Recht eine Aktion, die auf Sprachkritik aus der Bevölkerung basiert. Im Prinzip kritisiert ja jeder Wörter, die um ihn herum verwendet werden. So wird diese Aktion auch weiterhin von denen mitgetragen werden, die ihre Vorschläge einreichen. Dennoch haben diejenigen, die sich professionell mit Sprache und Diskursen beschäftigen, die Möglichkeit und die Methoden, die Kritik zu überprüfen und zu gewichten. Deshalb wird die Wahl des Unworts auch weiterhin eine Entscheidung der Jury sein, aber auf den Vorschlägen beruhen.