Keine Kompromisse!: Kunst von Boris Lurie in Berlin
Beim Anblick einer seiner Collagen soll eine Frau schreiend weggelaufen sein. Zur Kunst von Boris Lurie, der den Holocaust überlebte und dem nun in Berlin eine Retrospektive gewidmet wird.
Berlin (dpa) – Die Kritiker sollen anfangs nicht viel gehalten haben von den Werken des Boris Lurie. Als er nach dem Zweiten Weltkrieg in die USA auswanderte, hatte er das Konzentrationslager Buchenwald überlebt.
Dass er die Massenvernichtung an den Juden erfahren habe, sei in seine Kunst und seine Weltsicht eingeflossen, sagt Cilly Kugelmann vom Jüdischen Museum in Berlin. Das Museum zeigt nun rund 200 Werke des in Deutschland (eher) unbekannten Kunstrebellen.
Darunter sind Gemälde von gefesselten Frauen, verunstaltete Porträts, Zeichnungen des Kriegs, Koffer mit Hakenkreuzen und in Beton gegossene Davidsterne. Die wohl provokantesten Stücke in der Ausstellung Keine Kompromisse! Die Kunst der Boris Lurie: Collagen aus den 1960ern, auf denen Lurie Aufnahmen aus Konzentrationslagern mit Erotikbildern kombiniert. Wie die Menschen darauf reagierten?
Dazu gebe es eine Geschichte, die aber nicht verifiziert sei, sagt Anthony Williams von der Boris Lurie Art Foundation. Lurie habe eines seiner ersten Bilder an der Lower East Side in Manhattan gezeigt. Und eine Frau kam rein, schaute, drehte sich um und rannte schreiend raus, erzählt Williams. Er wisse nicht, ob die Geschichte stimme. Bei den Kritikern jedenfalls seien seine Arbeiten mäßig angekommen, aber die Menschen seien erstaunt gewesen.
Lurie (1924-2008) wurde im russischen Leningrad geboren und wuchs in Riga auf. Mehrere Mitglieder seiner jüdischen Familie wurden ermordet, er überlebte mit seinem Vater mehrere Lager der Nationalsozialisten. In New York widmete er sich später der Kunst. Fotos zeigen ihn mit Halbglatze und Schnauzbart. In seinem Atelier sollen jede Menge Zeitungsausschnitte und Pin-ups gehangen haben.
Eine Collage zeigt einen Leichenberg. Und dazu eine fast nackte Frau mit Strumpfhaltern. Er hat diese beiden Welten als Anklage zusammengefasst, so würde ich das interpretieren, sagt Programmdirektorin Kugelmann. Die ersten Fotoberichte über die Massenvernichtung und Kriegsverläufe seien in Magazinen erschienen, in denen es auch Werbung gegeben habe. Und Werbung arbeite eben auch mit Erotik. Sie glaube, das habe ihn zutiefst gekränkt und angeekelt, sagte Kugelmann.
Die Ausstellungsmacher bezeichnen Lurie als Ankläger von Rassismus, Sexismus und Konsumkultur. Lurie malte deformierte Frauenkörper (sein Kommentar: Es war meine Reaktion auf New York und auf Amerika. Fette und zerstückelte Weiber). Wenn man diese Zitate liest, bekommt man den Eindruck, dass Lurie wenig Zuneigung für die USA hatte. Zusammen mit anderen Künstlern gründete er die NO!art-Bewegung - als Reaktion auf eine kommerzialisierte Gesellschaft, wie es heißt.
Lurie habe sich mit seiner Kunst gegen den Konsum gewandt, sagt auch Williams. Den Kunstbetrieb bezeichnete Lurie laut einem Zitat in der Ausstellung mal als Dollarbefriedigungssystem. Dementsprechend habe er seine Kunst auch nicht verkauft, sagt Williams. Lurie habe stattdessen in Immobilien und Aktien investiert. Als er starb, hatte er 100 Millionen Dollar. Ein Konsumkritiker also, der mit Spekulationen an der Börse reich wurde.
Heute verwaltet die nach ihm benannte Stiftung seinen Nachlass. Von den rund 3000 Werken hätten sie nur einzelne verkauft, sagt Williams. So hätten sie überhaupt erst einmal den Wert der Arbeiten einschätzen können. Mittlerweile geht Luries Kunst auf Reisen. Die Ausstellung ist nach Angaben des Museums die bislang posthum größte. Die Schau läuft bis Ende Juli. Ganz am Anfang steht ein Zitat des Künstlers. Es lautet: Wenn Ihr Augen habt und denken könnt, werdet Ihr hier etwas Neues sehen.