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S. Fischer Verlag veröffentlicht "Für ein Lied und hundert Lieder" Liao Yiwu: "Mein Leben war wertlos wie das einer Ameise"

23.07.2011, 04:30

Kein Wunder, dass Chinas Kommunisten dieses Buch unbedingt verhindern wollten. Wortgewaltig schildert der geflüchtete Schriftsteller Liao Yiwu seine schlimmen Erlebnisse hinter Gittern. Gewalt und Schrecken herrschen in Chinas Gefängnissen – eine schockierende Dokumentation.

Von Andreas Landwehr

Peking (dpa). Acht Stunden vor dem Massaker am 4. Juni 1989 in Peking schrieb Liao Yiwu in einer düsteren Vorahnung das Gedicht "Massaker". "Die Macht wird siegen, sie ist ewig", heißt es darin. "Unsere Herzen sind schwarz. Schwarz und voll Glut. Wie Krematoriumsöfen. Hier brennen die Träume der Toten." Am Tag nach der blutigen Niederschlagung der Demokratiebewegung nahm der Dichter und Schriftsteller empört seine Verse auf vier Tonbandkassetten auf, gab sie Freunden mit. Sein leidenschaftliches Gedicht verbreitete sich im Untergrund. Vier Jahre, von 1990 bis 1994, saß er dafür in Haft.

In seinem neuen Buch "Für ein Lied und hundert Lieder" gibt Liao Yiwu (Jahrgang 1958) eine schockierende Beschreibung seines damaligen Lebens im Gefängnis. Erst seine Flucht ins Exil in diesem Monat machte die Veröffentlichung möglich.

Um es gleich vorwegzunehmen: Es ist keine leichte Lektüre, aber eine notwendige. Schwere Misshandlungen durch Wärter, Schläge mit Elektroknüppeln, schlimmste Brutalität unter Häftlingen – das blanke Grauen. Die Sprache von Liao Yiwu, der in Deutschland durch "Fräulein Hallo und der Bauernkaiser" bekannt wurde, ist stark, bildhaft und beeindruckend, dank der guten Übersetzung von Hans Peter Hoffmann.

"Zweimal wurde das Manuskript beschlagnahmt. Dieses Buch jetzt ist die dritte Version", berichtete Liao Yiwu der Nachrichtenagentur dpa. Mehr als zehn Jahre hat er daran gearbeitet. "Ich bin ein Handwerker der menschlichen Erinnerung." Chinas Behörden wissen nur zu gut, warum sie dieses Buch unbedingt verhindern wollten. Es beschreibt ein System der Brutalität, Willkür und Misshandlung im chinesischen Gulag – durch Wärter wie Mitgefangene, die wie wilde Tiere in überfüllten Zellen hausen und wie im Rudel gewaltsam unter sich Ordnung schaffen.

Liao Yiwu dokumentiert die "Speisekarte" im Untersuchungsgefängnis Kiefernberg in Chongqing: Brutale Bestrafungsaktionen unter den Gefangenen. "Dass im Untersuchungsgefängnis jemand totgemacht wird, das war so alltäglich wie Reis zum Essen." Als Liao Yiwu einen Verantwortlichen fragt, ob diese "Speisekarte" "nicht ein bisschen zu weit geht", entgegnet ihm dieser: "Unter Gesindel herrscht das Gesetz des Gesindels, du hast dich selbst hier hereingebracht, also brauchst du dich jetzt nicht zu beschweren, von wegen es geht zu weit. Sitzt du nicht im Knast, weil du zu weit gegangen bist? Du bist nicht zum Urlaub hier, die Leute müssen wissen, was Angst ist."

Es war ein Kampf ums nackte Überleben: Ein politischer Häftling unter Räubern, Vergewaltigern, Kleinkriminellen oder auch Mördern, nicht wenige zum Tode verurteilt. "In chinesischen Gefängnissen, wo Gefangene über Gefangene herrschen, versucht die Regierung, die Politischen in solchen Räuberhöhlen umzuerziehen", schreibt Liao Yiwu. Er wusste nicht, ob er das durchsteht. "Mein Leben war wertlos wie das einer Ameise, aber ich war nicht gewillt, eine Ameise abzugeben."

Nach zwei Jahren wurde Liao Yiwu 1992 ins reguläre Provinzgefängnis Nr. 2 von Sichuan zur "Umerziehung durch Arbeit" gebracht. "Nach über zwei Jahren hatte ich zum ersten Mal ein Bett für mich alleine." Wie in Untersuchungshaft musste er wieder Tüten kleben – für ein Kinderberuhigungsmittel. Am Ende kam Liao Yiwu ins Gefängnis Nr. 3, wo besonders viele "Konterrevolutionäre" saßen.

Das 582 Seiten lange Werk endet mit einer Auswahl von Gedichten als "Liebeslieder aus dem Gulag".

Liao Yiwu, Für ein Lied und hundert Lieder, S. Fischer Verlag, 582 Seiten, 24,95 Euro, ISBN: 978-3-10-044813-2