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Schloss Wernigerode zeigt Ausstellung über den Reclam-Verlag / Ein Sternchen für 20 Pfennige Literatur für alle Gesellschaftsschichten

Von Hans Walter 09.02.2012, 04:24

Noch bis Ende Februar verlockt die Sonderausstellung "Bildung für Alle. Der Verlag Philipp Reclam jun." im Schloss Wernigerode zum Höhenflug über die bunte Stadt. Eine Exposition, die bemerkenswerte Einblicke vermittelt.

Wernigerode l Die Ausstellung stammt aus der Sammlung des Frankfurter Antiquars Georg Ewald, ergänzt um einige Exponate aus dem Schloss. Hunderte Bücher, Noten, Zeitschriften, Grafiken, Autogramme und Widmungen, Werbeträger, Sachzeugen und mit Nutzer-Anmerkungen versehene Hefte geben im Frühlings-Bau Auskunft über das bedeutendste Verlagsprojekt des 19. und 20. Jahrhunderts: Reclams Universal-Bibliothek (RUB). Sie ist in keiner Weise zu übertreffen, ein Superlativ.

Die Ausstellung passt in besonderer Weise aufs Schloss. 1867 erschien mit Goethes "Faust I" das legendäre, in der Ausstellung mit einem Eichen-Lorbeerkranz gewürdigte erste Opus. Fünf Jahre zuvor begann durch den blutjungen Architekten Carl Frühling der gewaltige Umbau des Schlosses.

Die Reichsgründung von 1871 war auch für Anton Philipp Reclam (1807-1896) und seinen Sohn Hans Heinrich Reclam (1840-1920) als alteingesessene Leipziger Verleger die Initialzündung für den großartigen Erfolg ihrer Buchreihe. Frühzeitig genug gestartet - um ähnlich gelagerten Projekten von Meyer, Giegler oder der Mitteldeutschen Verlagsanstalt erfolgreich zu begegnen - blühte die Reihe dauerhaft auf.

Die Verleger brachten zugleich Leipzig zur Blüte. Sie waren Freimaurer. Das Völkerschlachtdenkmal, Deutschlands 1913 eingeweihtes größtes Memorial, geht auf H. H. Reclam als finanzkräftigen Anleger zurück.

Ein Bücherautomat für Großstadt-Bahnhöfe

"Reclam" wurde zum Synonym für preiswerte, für jedermann erschwingliche Bücher. Je nach Umfang wurden die Bände mit Sternen versehen. Jedes Sternchen kostete bis zum Ende des Ersten Weltkriegs 20 Pfennige. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren es dann 40 Pfennige. Reclam wurde zum Verleger des Bildungsbürgertums wie der Arbeiterschaft; zudem wurden seine Bücher Schullesestoff.

Allzeit war die Verlegerfamilie äußerst innovativ. Bei Reclam wurde 1912 der Bücherautomat für die Großstadt-Bahnhöfe erfunden. "Reclams Universum" begleitete als farbiges Kultur-Magazin die Buchpublikationen.

Neue Reihen - wie Opernlibretti, Oratorientexte, Lyrik, Philosophie, Biografien - erschlossen ebenso neue Leserkreise wie die Veröffentlichung der Reichsgesetze. Leinenausgaben (teils mit Goldschnitt) im Jugendstil und Leder-Halbpergament-Bände zeigen wie "Der schöne Reclam-Band" - farbige Pappbändchen bis in die 30er Jahre - die vielfältigen Reclam-Verdienste ums bibliophile Buch.

Mit seiner Sammlung erzählt Georg Ewald viele Episoden aus der Verlagsgeschichte. Im Nationalsozialismus verlor die Universalbibliothek ihre Unschuld. Heine und Meyerbeer waren Juden und wurden ebenso wie Thomas Mann als Namen und Nummer getilgt - dafür rückten Adolf Hitler und die Nürnberger Gesetze vor.

Andererseits dienten Reclamhefte als Tarnschriften für antifaschistische Aufklärung wie mit dem "Braunbuch über Reichstagsbrand und Hitlerterror".

Geschmolzene Emaille als Zeitzeugnis

Die Geschichte hat ihre eigene Logik aus allen Ereignissen, bewegendstes Exponat ist das Leipziger Straßenschild der "Reclamstraße". Die Emaille ist in der Bombennacht teilweise geschmolzen, als Leipzig und der weltberühmte Verlag am Kriegsende zerstört wurden. Wie mag es dabei erst den Menschen ergangen sein?

Folge des Hitlerterrors waren die Teilung Deutschlands und 1947 die Teilung in den neu entstehenden Stuttgarter bzw. Ditzinger und den Leipziger Verlagszweig. Bis 2006.

Diese Entwicklung spart die Ausstellung fast komplett aus - dabei wäre es auch spannend gewesen, die fast 60 Jahre der Verlagstrennung in Größen und Grenzen bis zum jetzigen Profil nachzuvollziehen.

Eine umfassende, ständige Reclam-Schau steht noch aus. Sie würde gut zum Profil des Schlosses passen.