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Neuer Fortsetzungsroman: Mit Annett Gröschner auf der Linie 4 unterwegs in der Welt "Man hat eine Muße während des Fahrens"

03.11.2012, 01:16

Annett Gröschner hat mit der Fahrt auf der Linie 4 verschiedene Städte auf der ganzen Welt erkundet. Ihre Erlebnisse veröffentlicht die Volksstimme ab 6. November als neuen Fortsetzungsroman. Grit Warnat hat die Autorin im Prenzlauer Berg von Berlin getroffen.

Volksstimme: Frau Gröschner, ich bin vom Alexanderplatz gerade mit der Straßenbahn Linie 4 gefahren.

Annett Gröschner: Die ist in meinem Buch gar nicht drin.

Volksstimme: Warum nicht? Die fährt doch in ihren Kiez.

Gröschner: Ich wollte lieber etwas über die alte Linie 4 machen, das war die erste Straßenbahnlinie, mit der ich damals in Berlin regelmäßig gefahren bin. Heute ist das die Metrolinie 10, eine Partylinie, vor allem nachts. Man fährt zwischen Wedding und Kreuzberg, wo die Clubs sind, hin und her. Manchmal kommt man dann nicht mal mehr mit einem Koffer in die Bahn, so voll ist es.

Volksstimme: Sie sind als Kind in Magdeburg immer mit der Straßenbahnlinie 4 gefahren, die zwischen Cracau und Stadtfeld unterwegs war. Was macht für Sie die Faszination Straßenbahn aus?

"Man sieht nach außen und nach innen, man sieht den Wandel"

Gröschner: Ich fahre unglaublich gern mit öffentlichen Verkehrsmitteln. In Bussen und Straßenbahnen hat man eine gewisse Muße während des Fahrens, man kann Leute beobachten, man sieht nach außen und nach innen, man sieht auch einen Wandel der Stadt, der Menschen, auch der Kulturen wie hier im Prenzlauer Berg, der sich leider immer mehr zu einem bürgerlichen Viertel entwickelt. Ich erfahre so viel mehr über eine Stadt, als wenn ich mit dem Auto fahren würde.

Volksstimme: Haben Sie überhaupt ein eigenes Auto?

Gröschner: Nein. Wenn ich eins brauche, nutze ich Carsharing.

Volksstimme: Das Fahren mit einer bestimmten Linie war anfangs ein Berlin-Projekt. Jetzt haben Sie sich ein Netz erarbeitet, das sich durch die Welt zieht. Wie kam es dazu?

Gröschner: Ich bin in Berlin viele Jahre von Endstelle zu Endstelle gefahren, mit Linien, die auch in gewisser Hinsicht Grenzen überschritten haben. Das hatte ich für die Berlinbeilage einer Zeitung gemacht, die leider nach drei Jahren eingestellt wurde, aber ich wollte das Projekt unbedingt weitermachen. Ich habe die Idee ausgedehnt auf die Welt.

Volksstimme: Leipzig, London, Istanbul, Buenos Aires. Wonach haben Sie sich Ihre Ziele ausgesucht?

Gröschner: Ich bin dorthin gereist, wo es mich durch Lesungen, durch Vorträge, auch durch Urlaub hingetragen hat. Und dort habe ich dann immer geschaut, ob es eine Linie 4 gibt.

Volksstimme: Sie haben sich nicht Rom, Paris oder Moskau ausgesucht, sondern zum Beispiel das kasachische Astana, das rumänische Temeswar oder Kasan und Tartu. Warum solche Exoten?

Gröschner: Ich bin durch Workshops und Lesungen gerade in Länder gekommen, die im Allgemeinen keine bevorzugten Touristenziele sind. Gerade Osteuropa finde ich sehr interessant, dort gibt es meistens eine Linie 4, ob nun Bus, Straßenbahn oder Trolleybus. In den großen Städten sind die Linien 4 häufig U-Bahnen. Mit denen fahre ich nicht, weil ich die Sicht nach außen hin nicht habe. Mir fehlt der Blick auf die Stadt. In meinem Text über Bielefeld kommt ein kleines Stückchen U-Bahn vor. Da fährt die Straßenbahn einfach ein paar Stationen unter der Erde.

"Es sind Reiseerzählungen, vieles ist verdichtet, literarisiert."

Volksstimme: Wie würden Sie Ihre Texte selbst beschreiben? Sind es Reisebilder, literarische Skizzen, Reportagen?

Gröschner: Sie haben etwas von Reisebildern, aber das hört sich etwas antiquiert an. Ich würde sagen, es sind Reiseerzählungen, denn vieles ist verdichtet, literarisiert. Reportage wäre auch nicht zutreffend.

Volksstimme: Sie haben Ihre Texte mit geschichtlichem Wissen untermauert. Haben Sie vorab oder nachträglich recherchiert?

Gröschner: Das war sehr unterschiedlich. In Alexandria gibt es nicht einmal einen Internet-Auftritt des Verkehrsbetriebes. Da bin ich ohne jegliche Vorrecherche gefahren, hatte aber eine sehr gute Stadtführerin. In China ist alles so schnelllebig, dass der aktuelle Stadtplan, den ich mir gekauft hatte, dann schon nicht mehr aktuell war. Als ich ankam, gab es die Linie 4 am Platz des Himmlischen Friedens nicht mehr. In solchen Fällen hilft jede Vorbereitung nichts. Bei den meisten Touren habe ich auch noch viel im Nachhinein recherchiert.

Volksstimme: Sie sind viel gereist. Was sind für Sie besonders wichtige Erkenntnisse?

Gröschner: Öffentliche Verkehrsmittel stehen für mich immer für eine offene Stadt, für Kommunikation, für Begegnung. Was aber auch heißt, dass Busse und Straßenbahnen sich nicht durch Sicherheitsmaßnahmen wie auf Flughäfen vor Anschlägen schützen lassen. In der Linie 4 in Tel Aviv zum Beispiel hat es 2002 einen Selbstmordanschlag mit sechs Toten gegeben. Und es gibt überall in der Welt durchaus feine Unterschiede. In vielen Städten fahren nur die Leute Bus oder Straßenbahn, die sich kein Auto leisten können, in Ägypten gibt es Frauenwagen, in Riga sitzen Russen oft getrennt von den Letten. Manchmal war ich auch erschrocken, wenn ich erfahren habe, unter welchen Bedingungen öffentlicher Nahverkehr in manchen Orten funktioniert. In Astana mussten die Fahrer und Schaffner auf eigene Rechnung arbeiten, sie hatten den Bus gepachtet. Sie waren davon abhängig, dass möglichst viele mit ihnen unterwegs waren. Beeindruckt haben mich immer wieder die Fahrerinnen in Osteuropa, die mit hochhackigen Schuhen die oft uralten Straßenbahnen bedienen.

"Viele erinnern sich noch an das Klingeln, an das laute Quietschen"

Volksstimme: In Magdeburg sind Sie mit Ihrer Schwester Nadja in einer alten Gothaer Straßenbahn unterwegs und geben Lesungen mit Stadtführungen. Spüren Sie bei Ihren Gästen auch eine Faszination für das Unterwegssein auf Schienen?

Gröschner: Diese Tour war gedacht als einmalige Lesung zu den Literaturtagen 2008. Jetzt waren wir schon mehr als 20-mal unterwegs und die Veranstaltungen sind meistens ausverkauft. Das finde ich sehr beachtlich, das wäre in anderen Städten nicht möglich. Viele der Gäste können sich natürlich noch an die alten Wagen erinnern, an das Klingeln, wenn die Bahn losfährt, an das laute Quietschen in den Kurven und die Zahlboxen. Aber öffentliche Verkehrsmittel sind überhaupt eine schöne Möglichkeit, eine Stadt zu erkunden.

Volksstimme: Sind Sie schon einmal selbst Straßenbahn-Fahrer gewesen?

Gröschner: Leider bisher nicht. Es blieb bisher ein Wunsch.

Nächste Fahrt: 14. November um 19 Uhr, Karten über die Feuerwache Magdeburg