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Opernhaus Oper über Träume und Realitätsflucht

Die Oper "Vanessa" von Samuel Barber feiert in Magdeburg Premiere - und überzeugt.

Von Irene Constantin 20.01.2019, 23:01

Magdeburg l Edle Villa im felsigen Nirgendwo. Endloser Winter und drei Frauen, deren Tätigkeit das Warten ist. 20 Jahre lang, dann kommt Anatol. Es geschieht etwas. Er reist ab, mit einer der Frauen. Es schneit noch immer.

 Bei Tschechow sind es drei Schwestern in der Provinz, deren Sehnsucht „Nach Moskau!“ heißt. In Samuel Barbers Oper ist nur von Anatol die Sehnsuchtsrede. Die alte Baronesse, ihre Tochter Vanessa und deren junge Nichte Erika erwarten Anatol, den früheren Geliebten Vanessas, der endlich seine Wiederkehr angekündigt hat. Die Tücher vor den verhängten Spiegeln werden entfernt, die Bilder mit der schönen Vanessa wieder aufgehängt. Jung, blond, unbekümmert ist der Mann, der schließlich erscheint; keinesfalls Anatol und trotzdem Anatol. Sein Vater starb und der Sohn will wissen, wer die Frau ist, deren Name den Alten verzauberte. Vanessa hält es nicht aus, aber Erika verbringt eine Liebesnacht mit dem Fremden.

Ende halbwegs gut – alles halbwegs gut? Nein. Schon der Beginn der Ouvertüre mit seinem abwärts fahrenden Blechbläsermotiv, gefolgt von wild gezackten Geigentönen, hat angekündigt, dass Dramatisches zu erwarten sei. Harfen und Oboen kündigten natürlich auch Liebliches an, und den zweiten Akt leitet tatsächlich ein putziges Fugato nach allen Regeln alteuropäischer Kompositionskunst ein.

Samuel Barber war ein Außenseiter unter den amerikanischen Komponisten. Als edler Stilist bekannte er sich in zum konservativen Stil, der natürlich aus Europa kam. In „Vanessa“, 1958 uraufgeführt, kann man sich in Anklängen an Richard Strauss erinnert fühlen, an den späten Puccini. Süddeutsche Ländler und Walzer, standen bei einem Gute-Laune-Tänzchen Pate. Jazz- und indianische Elemente sind höchstens zu erahnen.

Barbers Musik mit ihrer bekömmlichen atonalen Würze und den eingängigen melodischen Wendungen ist gut anzuhören. Als szenische Musik ist sie tadellos, kongruent oder widersprüchlich – sie trägt die Handlung. Svetoslav Borisov und die Magdeburgische Philharmonie hatten hörbar Freude an der Entdeckung dieser unbekannten, dennoch vertrauten Musik. Schwungvolles Tempo, ein runder Klang, schöne Orchestersoli: man hörte gern zu.

Samuel Barber war ein Lieblingssohn aus gutem Hause. Er liebte feines Essen, war in die Oper vernarrt, schätzte Literatur und Schauspiel. Sein Librettist und langjähriger Lebensgefährte Gian Carlo Menotti, ebenfalls Komponist, schrieb ihm alles was er mochte in den „Vanessa“-Text: ein Menü am Beginn, den Herrensitz nebst adligen Damen, Anklänge an Tschechow, Mussorgski, Puschkin, Edgar Allan Poes und Karen Blixens gothic Style.

Auch Barbers Arzt-Vaterfigur kommt ausgiebig vor. Die erwähnte Fuge leitet ein munteres Schlittschuhlaufen ein. Vanessa und Anatol genießen den Winter und das Leben, während Erika Anatols Liebe nicht tief, nicht unendlich genug findet und sich von ihm abwendet.

Anatol und Vanessa verloben sich beim Silvesterball, Erika flüchtet hinaus in die Kälte zum See. Man findet sie halb erfroren. Schwanger von Anatol hat sie das Kind verloren. Als sie genesen ist, kommt der Abschied. Anatol und Vanessa reisen ab: Rom, Paris, Budapest, Wien. Nach einem bittersüßen Abschiedsquintett nimmt nun Erika Vanessas Stelle ein. Die Spiegel werden verhängt, die alte Baronesse wird mit ihr wie zuvor mit Vanessa kein Wort mehr reden, neues Warten beginnt.

Undine Dreißig schweigt mit unnachahmlichem Ausdruck, singen darf sie ja nur anfangs zur Enkelin. Emilie Renard gibt der Erika eine weiche Zartheit, die in ihrer melancholischen Winter-Ballade besonders mild leuchtet. Am Ende nimmt sie ihr Schicksal entschlossen an. Roland Fenes hat warmstimmig einen gutmütigen Doktor zu geben, den freundlichen Onkel in der Frauen-WG.

Richard Furman als Anatol ist der tenorale Sonnyboy im Mittelpunkt, klare Stimme, Wohlklang, gute Diktion, der Held der Oper ist er indes nicht. Diese Rolle machen sich Erika und Vanessa streitig, hier prinzipielle Liebe, dort pragmatische Lebensfreude. Noa Danon strahlt diese Freude aus, in jedem der perfekten Kostüme eine neue Augenweide. Ihre Stimme ist farbenreich, die nervös Wartende, die Enttäuschte, Beängstigte, heiter liebende macht sie im Klang erlebbar.

Karen Stone inszenierte die Kälte und Unbestimmtheit zeremoniell, fast in Ballettposen, das erwachte Leben zwischen Anatol und Vanessa hingegen frisch und echt, ein reizvoller Kontrast. Alles spielt im goldenen Käfig, die Villa ein riesiger Vogelbauer mit grandiosem Gebirgs-Panoramablick, vom herrlichen Pelz bis zum teuren Wein ein Upper-Class-Traum. Man möchte in Ulrich Schulz‘ Bühnenbild am liebsten einziehen. Zumindest wurde lang und herzlich geklatscht.